Wie war das - 1933 in Celle?

So fragten wir jeweils Luise und Heinrich K., Fritz und Martha K. und Wilhelm T.. Sie haben das Ende der Weimarer Republik als Hausfrauen, Arbeiter, Arbeitslose oder Angestellte miterlebt, haben Politik damals von unten erfahren, haben in den Organisationen der Arbeiterbewegung mitgewirkt, so lange sie konnten, und mußten später dafür leiden. Trotzdem haben sie ihre Überzeugung nicht geleugnet - bis heute nicht. Heinrich K., heute 82 Jahre alt, war, nachdem er in der "Eisernen Front" der Sozialdemokraten die nötige Konsequenz vermißt hatte, zur KPD gegangen und arbeitete in der Sparte der Bauarbeiter in deren "Revolutionärer Gewerkschaftsopposition", RGO, mit. Zusammen mit seiner Ehefrau Luise wohnte er in der Blumlage. Wilhelm T., damals wie heute in der SPD, war hauptsächlich in der "Freien Turnerschaft" aktiv, der Arbeitersportorganisation in Celle, in der, wie er sagt, "man sich entweder zur KPD bekannte oder wie die meisten zur SPD. Im Sport sind sie zusammen gewesen." Er war 1933 in der Buchhaltung des Zuchthauses angestellt und wohnte in Neuenhäusen. Fritz und Martha K. gehörten zu den wenigen, die sich zur "Sozialistischen Arbeiterpartei", SAP, bekannten. Einer Gruppe, die im Kampf der beiden Arbeiterparteien SPD und KPD gegeneinander den größten Fehler sah und die SPD für zu nachgiebig hielt. Fritz ist später in die SPD gegangen, Martha nicht. Beide machen aber - heute noch - aktiv bei den "Naturfreunden" mit.

2. Mai 1933 - Zerschlagung der Gewerkschaften

Wie der Lebensunterhalt der Arbeiter war, wollten wir wissen.
Luise K.:
 Damals war ja alles viel schlimmer als heute. Wir kriegten mit 2 Kindern 10,50 Mark Arbeitslosengeld in der Woche. Davon mußten wir die Miete bezahlen, mußten Kohlen kaufen. Wir konnten jedesmal nur ¼ Zentner Briketts kaufen, auch im Winter. Wenn die alle waren, mußten wir sehen, daß wir mit dem Rad in den Wald fuhren oder zu Fuß mit dem Schlitten in den Wald gingen und haben Holz gehackt, um für die Kinder eine warme Suppe zu kochen. 10,50 Mark war damals wirklich wenig. Die Kinder waren 2 und 3 Jahre alt. Wir haben manchmal die Milch nicht bezahlen können. Ein Zentner Briketts kostete vielleicht 1,80 Mark. Ich weiß noch, wir haben die billigste Margarine gegessen, die kostete 28 Pfennig, das billigste Rübenöl, was es überhaupt gab. Wurst und so kam auch nicht auf den Tisch. Ich bin nachts um vier mit dem Freund meines Mannes und dessen Frau losgefahren in den Busch und haben Bickbeeren gepflückt, haben geramscht und geramscht, was wir konnten, und haben uns kaum eine Scheibe Brot gegönnt. Wenn wir so zwanzig Pfund geschafft hatten, von morgens um vier bis nachmittags um fünf, sind wir nach Hause gefahren und haben die Bickbeeren verlesen, in Tüten gepackt und sind dann nach den Herrschaften gefahren und haben die Bickbeeren für 18 Pfennig pro Pfund verkauft. Bei den Bauern haben wir Rüben gehackt. So haben wir uns soviel noch zusammengespart, daß wir mit zwei Familien ein Schwein schlachten konnten, damit wir im Winter über die Runden kamen. Die Arbeitslosen waren damals schlechter gestellt als heute. Und das muß man auch sehen, wer einigermaßen Arbeit haben wollte, daß der praktisch rüberflog in diese Partei.

Sind Arbeitslose hier schon vorher zur NSDAP gegangen oder sind die rübergegangen, nachdem die Nazis an der Macht waren?
Luise K.:
 Nachdem die Nazis an der Macht waren, damit sie dann Arbeit kriegten. Aus dem eigenen Familienkreis weiß ich, daß die Männer sogar in die SA gegangen sind, um für ihre Mutter und ihre Kinder sorgen zu können, weil sie sonst auf der Straße lagen und keine Arbeit hatten. Sie kriegten einfach keine Arbeit, wenn sie den Ausweis der SA nicht hatten. So sind viele da reingeschlittert, aus Überzeugung bestimmt nicht, es hat auch mancher seinen Kopf dafür hergeben müssen, ohne daß er das wirklich mitmachen wollte.

Wie sind die Nazis 1933 in Celle aufgetreten?
Luise K.:
 Den einen Tag sind wir auch in den Bickbeeren gewesen und kamen abends um fünf nach Hause. Wir fuhren oben "Im Kreise" rein und da sah ich schon die SA marschieren. In den Häusern hatten die Leute natürlich die Fenster auf und schrien, Nazi verrecke. Die SA-Leute hatten ihre Gummiknüppel dabei. Die Arbeiter in der Blumlage und in der Masch haben sich dann auch bewaffnet, haben sich Knüppel geholt und dann wurde eine Schlacht geschlagen. Nachher wurden bei den Arbeitern Hausdurchsuchungen gemacht. Viele Arbeiter wurden verprügelt und manchen wollten sie sogar an die Wand stellen. Das war im Sommer 1932.

Was haben die Nazis zur Festigung ihrer Macht nach dem 30. Januar 1933 noch alles getan?
Luise K.:
 Da weiß ich noch, wie der Fackelzug der SA nach der Machtergreifung auf der Stechbahn war. Da war ich mit der Frau Sch. Dort. Als der Fackelzug auf die Stechbahn kam, schrie alles "Hosianna" und Frau Sch. Fing an, "Nazi verrecke", da kamen gleich zwei Mann auf die zu, haben sie an die Schulter genommen und haben sie geschüttelt: "Noch einmal und Du bist erledigt." Das waren zwei ganz kräftige Kerls.
Heinrich K.: Die Leute waren alle kopfscheu geworden, als sie sahen, wie die Nazis damals auftraten, und sie sagten sich, wir kommen dagegen nicht an.
Luise K.: Die Nazis sind doch mit Knüppeln in die Arbeitergegend gekommen, und wer sich dagegen stellte, wurde verprügelt. Du mußt doch sagen, wie es war.
Heinrich K.: Arbeiter selber, die wechselten da rüber zu den Nazis.
Luise K.: Die haben uns doch nachts aus den Betten geholt und haben alles untersucht, aus den Schränken geholt und rausgeschmissen, weil sie dachten, da wären Gewehre. Dabei war da überhaupt nichts.
Heinrich K.: Im Augenblick, wo die Demokratie nicht mehr herrschte, sind diese Zustände zwangsläufig gekommen. Ich habe zum Beispiel im Konzentrationslager mit dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Karl Liedtke gesprochen. Natürlich geschah das unter Absicherung, da stand eine Wache von uns an der Treppe, damit wir nicht überrascht werden konnten. Wir hatten es günstig, denn wir hatten Wäsche aufzuhängen auf dem Boden. Da war ja immer was zu tun und der Führer unten, der die Waschküche leitete, war auch Kommunist. Und da sagte er [Karl Liedtke], so in ungefähr 12 Jahren, so genau kann ich das nicht wiedergeben, es ist ja nun schon 50 Jahre her, werden wir [die Sozialdemokraten] die Macht wieder übernehmen. Da sag ich zu dem, Karl, nun kuck mal aus dem Fenster, du siehst da unten, da werden Arbeiter verprügelt, die liegen da unten und können sich nicht mehr rühren. Wenn die von der SS jetzt hier raufkommen, geht's uns genauso. Was für einen Weg willst Du denn jetzt vorzeigen? Ja, sagt er, jetzt weiß ich überhaupt noch nicht, denn den weg muß die Zeit bringen. Ich wurde dann ungefähr nach einem halben Jahr aus dem Konzentrationslager entlassen. Als ich entlassen wurde, hatte ich nicht einmal so viel Geld, damit ich nach Hause fahren konnte. Ich kam da hin, gab meine Sachen ab , da bei den Zuständigen von der SS, und dann bin ich mit der Bahn losgefahren. Unterwegs im Zug, da war ein besserer Herr und der sagte zu mir: "Sie sehen aber gar nicht danach aus, daß Sie auf reisen sind." Ich sagte: "Nein. Ich bin zwangsweise auf Reisen." Und dann habe ich ihm das erzählt, vom Konzentrationslager undsoweiter. Darauf sagt er: "Nehmen Sie das nicht für ernst. Hier haben Sie Geld, damit können Sie nach Hause fahren." Und so bin ich wieder hier gelandet. - Ins KZ nach Brandenburg bin ich 1934 gekommen.
Luise K.: Die haben ihn abends um zehn abgeholt. Das weiß ich noch genau. Da haben sie gesagt: "Herr K., Sie müssen mal mitkommen zum Verhör." Und dann ist er gar nicht wieder nach Hause gekommen. Die haben ihn in Celle gleich ins Gefängnis gebracht. Ich mußte ihm ein Kopfkissen bringen und dabei habe ich gleich gefragt, wie lange das denn noch sein sollte. Das wüßten sie nicht, er würde erstmal in Schutzhaft genommen. Nach acht Tagen bekam ich Bescheid, daß er überführt würde nach Berlin-Brandenburg. Das hat ungefähr vier Monate gedauert. Während seiner Haft habe ich an den Leiter des KZ geschrieben, damit mein Mann freigelassen wird. Dem habe ich die ganze Situation geschildert und hab gesagt, daß mein Mann gar nicht so ist, wie sie ihn vermuten, daß er so ein Draufgänger wär. Er hätte wohl mal an der Ecke gestanden und hätte geredet, aber viel mehr wäre da auch nicht hinter gewesen. Die hatten ja auch nichts gefunden. Den Tag vorher ist ja der Genosse Sch. Noch gekommen, der hat ja noch gefragt: "Habt Ihr noch Papiere von der Partei?" Wir sollten alles verbrennen. Die ganze Nacht haben wir Papiere im Herd verbrannt, und was wir nicht geschafft haben, haben wir in den Schornstein oben im Haus gesteckt. Da haben sie nichts gefunden, drauf konnten sie ihm nichts wollen.
Heinrich K.: Unter den Polizisten waren Schulkollegen von mir, die selbst bei mir die Hausdurchsuchung gemacht haben, bewaffnet mit Gewehren. Als ich zum Verhör war, wollte ich das Protokoll lesen, das ich unterschreiben sollte. Aber ich konnte nur den Anfang lesen, dann wollte der Polizeibeamte nicht, daß ich weiterlese, und ich habe gedacht, was willst du noch viel machen, unterschreibst einfach und damit basta.
Wilhelm T. war zwar nicht im KZ. Die Herrschaft der Nazis spürte aber auch er am Arbeitsplatz:
Wilhelm T.: Wir haben viel politisiert, Fritz Kleist (der Strafanstaltsdirektor des Celler Zuchthauses von 1930 bis 1933, vgl. "Celler Zündel" Nr. 10/82) und ich. Er war ja Genosse. Das war natürlich bekannt unter der Beamtenschaft. Und die war ja nun gerade nicht so eingestellt wie wir. Das hat ja auch dazu beigetragen, daß er (Kleist) Ende April '33 entlassen wurde, fristlos sogar, obwohl er 70% Schwerkriegsgeschädigter war, und wieder zurück versetzt wurde als Oberlehrer nach Westpreußen. Später kam der von den Nazis eingesetzte Direktor Marloh immer wieder zu mir und sagte: "Sie müssen irgendwo eintreten." Habe ich gesagt: "Herr Direktor Marloh, Sie wissen, woher ich komme, und es tut mir leid, das kann ich nicht." Und dann wurde ja '36 die Wehrmacht eingeführt und da sagt er: "Menschenskind, melden Sie sich doch, machen Sie doch sonen Acht-Wochenkus, dann kann ich doch den anderen gegenüber sagen, was wollt ihr denn, der Mann ist garnicht so, er hat sich freiwillig gemeldet." Na, ich hab das dann auch gemacht. Das Gehalt bekam ich ja weiter, warum nicht? Und dann kam '37 wieder solche Kampagne, die wurde von den anderen geschürt: Der alte Marxist sitzt immer noch in der Geschäftsstelle! Und da hat Marloh gesagt: "Ich kann Sie nicht mehr halten, bewerben Sie sich irgendwo, ist ganz gleichgültig, wo Sie sich bewerben." Na, ich habe mich dann auch beworben und kam dann auch bei der 'Celler Knopffabrik' an.

Wie sah die Gleichschaltung der Gewerkschaften am 1. Mai '33 und ihre Übernahme durch die "Deutsche Arbeitsfront" denn hier aus?
Martha K.:
 So lange die Nazis uns die Gewerkschaften nicht verboten hatten, solange sind wir zusammengekommen. Wir hätten auch nie geglaubt, daß die die Macht oder die Kraft gehabt hätten, uns zu verbieten. Wir waren alle wie gelähmt, als die die Gewerkschaften verboten haben. Aber wir haben uns immer noch getroffen, an der Örtze. Bei uns haben sie 'nen parrmal noch Haussuchungen gemacht. Da war ich noch mit meinem ersten Mann zusammen, der war Kassierer der Gewerkschaft in der 'Celler Knopffabrik'. Da haben sie (die Nazis) behauptet, die Kasse stimmt nicht. Aber das haben sie bei allen Kassierern der verschiedenen Gewerkschaftsverbände getan. Wo sie hinkamen, habe sie erzählt: "Die Kasse stimmt nicht." Und da wollten sie meinen Mann noch einsperren. Da hab ich gesagt, ich werde es nachbezahlen, und das habe ich dann auch getan.
Heinrich K.: Am 1. Mai '33 sind da alle mitgelaufen. Aber die Gedanken waren natürlich nicht da. Es war wier ein Schock. Das war nur die ersten paar Tage, nachher baute das immer mehr ab.
Wilhelm T.: 2. Mai '33, da wurde das Gewerkschaftshaus, das sich auf der Neustadt befand, wo jetzt die "Königin Bar" drin ist, und gleichzeitig wurde das Heim der "Freien Turnerschaft" (das heutige TuS-Heim) besetzt.

Hatte es bei der Besetzung Widerstand gegeben?
Wilhelm T.:
 Nein. Da wohnte ein Verwalter bei uns im Heim, der war bei der "Celleschen Zeitung" als Drucker beschäftigt und der machte das nebenamtlich. Da sind die reingekommen und haben das besetzt. Und aus war es. Wir konnten ja keinen Widerstand leisten. Es war der 2. Mai. Sport wurde nicht getrieben, die Sportplätze waren gesperrt, SA war da aufmarschiert. Und der Verwealter, der da war, der wurde später umgesetzt in ein andereres Haus. Das ist alles blitzartig gekommen.

Gab es vielleicht andere Formen von Widerstand?
Martha K.:
 Direkt gegen angehen konnten sie ja gar nicht. Sie konnten nur nochmal ein paar Flugblätter verteilen, so still und heimlich. Das war natürlich gefährlich.

SAP-Leute aus Celle haben noch längere Zeit Flugblätter aus Hannover geholt und weitergegeben.
Dazu Martha K.:
 Ich mußte immer die Blätter holen von halb Hannover. Einer fuhr mir entgegen, und ich kam von Celle per Rad, und wir sind uns begegnet, da stehen ein paar Birken auf dem Weg nach Hannover. Und wir haben getan, als wenn sonst was war, weil da manchmal 'nen Bauer am Pflügen oder am Ackern war. Und dann haben wir uns dahingesetzt unter die Birken und haben erstmal was gegessen. Da war unser Sattel immer los, und dann sind die Flugblätter in der Radstange gelandet oder in den Satteltaschen, wir hatten sie anfangs in den Ledertaschen. Und dann sind wir wieder abgefahren und haben gewinkt und getan, als wenn wir ein Liebespärchen waren. Niemand durfte was wissen. Unter Zittern haben wir die Blätter weitergebracht. Bis sie (die Genossen aus Hannover) zuletzt gesagt haben, daß es keinen Zweck mehr hat. Sie hatten in Berlin welche erwischt und hatten sie dann blutig geschlagen und offen durch Berlin gefahren. Dann hörten wir auf, weil wir sagten, wir opfern nur unsere besten Kameraden. Und es wurde ja auch strenger. Jeder Nachbar war ja dermaßen, daß er aufpasste.

(Wir haben die Antworten auf gleiche Fragen z.T. hintereinandergesetzt, auch wenn sie in verschiedenen Gesprächen kamen. Wir hoffen, trotzdem unseren Interviewpartnern jeweils gerecht geworden zu sein. Allen nochmals vielen Dank!)

Aus: Celler Zündel, 3. Jg., H. 5, S. 3-6, 1983