Was geht, was bleibt, was kommt? / Straßennamen und Nationalsozialismus

„Geschichte, die noch qualmt“ – so hat die us-amerikanische Historikerin Barbara Tuchmann metaphorisch die Zeitgeschichte charakterisiert. In Celle qualmt es gerade wieder, denn erneut stehen Straßennamen auf dem Prüfstand; ganz oben auf der Liste der Helmuth-Hörstmann-Weg, der Hanna-Fuess-Weg und die Agnes-Miegel-Straße. Einige weitere sollen mit diesem Artikel ins Gespräch gebracht werden. Noch vor Weihnachten will der Stadtrat Entscheidungen treffen. Am Ende dieses Artikels gibt es einige Vorschläge für die Neubenennungen.

Rund dreißig Straßennamen sind im niedersächsischen Celle nach Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens benannt, die in ihrer Biografie auch die Mitgliedschaft in der NSDAP zu verzeichnen haben. Dies dürfte in vielen anderen Städten nicht anders sein. Immer wieder hat dies in den vergangenen zehn Jahren für Diskussionen in der Stadt gesorgt.

Zwei Straßennamensbenennungen wurden zwischenzeitlich zurückgenommen. Zum einen handelt es sich um Ernst Meyer. Er war seit 1924 Oberbürgermeister der Stadt und wurde 1945 seines Amtes enthoben. Nach seinem Tod wurde er auf der Grabstelle für Ehrenbürger der Stadt beigesetzt, und 1954 wurde eine Straße nach ihm benannt. Mit der Aufarbeitung u.a. des Massakers an den Häftlingen eines KZ-Zuges nach Bergen-Belsen im April 1945 in Celle wurde seine Rolle im Zusammenhang mit diesem Verbrechen thematisiert. Die Straße wurde 2007 durch Ratsbeschluss umbenannt.

Auch eine Benennung nach einem Nachkriegsoberbürgermeister musste rückgängig gemacht werden. Erst 1999 war nach Dr. Kurt Blanke eine Straße benannt worden. Blanke war zwischen 1964 und 1973 als CDU-Politiker Oberbürgermeister der Stadt. Eigentlich war lange bekannt, dass er im besetzten Frankreich als Leiter des Referats „Entjudung” in der Wirtschaftsabteilung des Militärbefehlshabers in Frankreich für die Kontrolle und Durchsetzung der „Arisierung“ in der besetzten Zone verantwortlich war. Aber erst nach einer historisch-kritischen Studie aus dem Jahr 2008 beschäftigte sich der Stadtrat mit seiner Rolle im Nationalsozialismus und nahm eine Straßenumbenennung vor.

Als Konsequenz aus dieser Diskussion gab die Stadt ein Gutachten zu Straßennamensgebern in Auftrag, deren öffentliches Wirken auch in die Zeit des Nationalsozialismus fiel. Beauftragt damit wurde der Bernhard Strebel, der sich mit seiner Monografie über die Ereignisse des 8. April 1945 als souveräner Historiker gezeigt hatte. Bereits im November 2008 hatte er unter dem Titel „Straßennamen in Celle und personelle Verbindungen mit dem Nationalsozialismus“ erste Befunde vorgelegt: Insgesamt 36 Personen, nach denen in Celle Straßen benannt wurden, waren Mitglieder der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen waren. Er konstatierte, dass sie „das NS-Regime auf sehr unterschiedlichen Ebenen (unter-)stützten oder in einigen Fällen in unterschiedlichem Umfang (mit-)verantwortlich für die Initiierung und Umsetzung von brutalen Repressionsmaßnahmen gegen Kriegsgefangene und Zivilisten und von verbrecherischen Vernichtungsaktionen zeichneten.“

Aber er hielt auch weitere Recherchen für erforderlich, um offene Fragen zu klären und belastbare Ergebnisse zu bekommen. Diese weitergehende Studie war im wesentlichen Ende August abgeschlossen. Daraufhin traf sich eine von der Stadt um Mitwirkung gebetene Bewertungskommission, der als reine Männerrunde angehören: Hans-Ulrich Thamer (Uni Münster), Hans-Hermann Jantzen (Landessuperintendent), Thomas Scharf-Wrede (Direktor des Bistumsarchivs Hildesheim), Michael Fürst (Vors. des LV der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen) sowie Jörn Ipsen (Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes). Sie gaben im September eine Bewertung ab, die wie auch die Studie bisher nicht veröffentlich wurde. Die anscheinend zunächst vereinbarte Vertraulichkeit wurde durch die CZ dann durchkreuzt, so dass die Stadt die abschließende Studie Mitte Oktober ins Internet stellte.

Konsens oder Geschichtspolitik?

Nach dem Historiker Rainer Pöppinghege sollen Straßennamen so etwas wie ein „konsensuales generationsübergreifendes Selbstverständnis einer Gesellschaft“ ausdrücken. Eine Umbenennung bedeute insoweit, sich bewusst zu distanzieren. Dies ist selbstverständlich schwieriger bei Personen des öffentlichen Lebens, deren Biografie unterschiedliche Phasen aufweist. So ist bei der Bewertung der nach ehemaligen NSDAP-Mitglieder benannten Straßen eben auch zu berücksichtigen, dass sich viele von ihnen anschließend am Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik beteiligt haben. Dies gilt in Celle zum Beispiel für den Künstler Fritz Grasshoff oder auch für den späteren Präsidenten des Landessportbundes Niedersachsen, Günther Volker, die als sehr junge Menschen Mitglied in der NSDAP geworden waren. Aber – auch das ist zu bedenken: Sie hatten dem NS-Staat nie an höherer Stelle „gedient“ und sie haben sich kritisch zur NS-Geschichte geäußert.

Auch wenn Straßenbenennungen im Rat zumeist fraktionsübergreifende Mehrheiten fanden, spiegelt dies nicht immer einen Konsens, sondern vielmehr häufig einen Tauschhandel. Zwei Beispiele:

Ein neues Wohngebiet im Westen Klein-Hehlens sollte in den 1960er Jahren Straßennamen bekommen, die an Widerstandskämpfer erinnern. Dieser Widerstand war bekanntlich breit gefächert; insoweit war den Ratsmitgliedern klar, dass die zu treffende Auswahl „Geschichtspolitik“ ist – also eine Werteentscheidung beinhalten würde. Die CDU schlug vor die Straßen zu benennen nach: Leber, Leuschner, Mierendorf (für den sozialdemokratischen Widerstand), von Stauffenberg, Beck, von Witzleben und Goerdeler (stellvertretend für die Attentäter des 20. Juli), Bonhoeffer (für die ev. Christen) sowie Stülpnagel und Rommel. Mit guten Gründen, die in der Öffentlichkeit aber nicht genannt wurden, lehnte die SPD die Nazi-Generäle Stülpnagel und Rommel ab und schlug an deren Stelle die Geschwister Scholl und den SPD-Politiker Breitscheid vor. Überraschenderweise konnte sie eine Ratsmehrheit für diese Änderung gewinnen. Weitere Vorschläge der SPD-Fraktion - u.a. von Ossietzky und Anne Frank - wurden abgelehnt. Wer heute auf den Stadtplan schaut, wird feststellen, dass es Stülpnagel und Rommel doch noch auf Straßenschilder gebracht haben, genauso wie Reichwein, York, Moltke und Hassell (alle Kreisauer Kreis).

Hörstmann, Fueß und Miegel

Peinlich dürfte für etliche aktuelle Ratsmitglieder die Straßenbenennungsrunde des Jahres 1999 sein, als das Gebiet rund um das Rathaus nach verdienten Kommunalpolitiker_innen benannt wurden: Helmuth Hörstmann, Erich Eichelberg, Kurt Blanke (alle CDU), Emil Ermshaus, Lisa Korspeter, Else Wex (alle SPD) - mit August Sagebiel kam ein Kommunalpolitiker der Weimarer Republik zum Zug, den aus familiendynastischen Gründen die FDP vorgeschlagen haben dürfte. Die Rolle Blankes als Arisierer im besetzten Frankreich und die bekannte SS-Mitgliedschaft Hörstmanns sorgten schon seinerzeit bei Historikern (z.B. Sybille Obenaus), aber auch in unserer Zeitschrift für Kritik. Deshalb ist nicht gänzlich unverständlich, wenn Hörstmanns Sohn Udo in einem Interview mit „CelleHeute“ jetzt die Frage aufwirft, „welche neuen Erkenntnisse sich aus dem Gutachten ergeben sollen, die zum Zeitpunkt der Namensgebung noch nicht bekannt waren“. Aus der SPD-Ratsfraktion war in den vergangenen Jahren immer zu hören, dass es sich um ein Proporz-Geschäft gehandelt habe.

Vor diesem Hintergrund ist es beachtenswert, dass sich die CDU – aber auch die Kommunalpolitik als Ganzes – heute der kritischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit stellen.

Helmuth Hörstmann stand einerseits für den rechten Rand der CDU, was seine Reden zum Stahlhelmtreffen 1983, aber auch zum 1985 in Celle durchgeführten Deutsche Burschentag belegen, andererseits – und vielleicht auch deshalb – war er einer der populärsten Politiker der CDU. Im Rückblick muss ihm jetzt angelastet werden, dass er sich seiner eigenen Vergangenheit nicht zu stellen vermochte und deshalb auch nicht in der Lage war, zu einer kritischeren Sicht auf die Verantwortung seines Milieus für den Aufstieg des Nationalsozialismus zu kommen.

Bei Hanna Fueß sind es vor allem neuere Forschungen, z.B. der Essay von Sebastian Winter in den „celler heften“ der RWLE Möller Stiftung, die hier eine eindeutige Bewertung ihrer Biografie ermöglichen. Sie war eben nicht allein die „Nazisse“, die in der Celleschen Zeitung und den „Celler Kriegsbriefen“ Führer, Blut und Boden pries, sondern sie war auch nach 1945 nicht zu einer Veränderung ihrer völkischen und antisemitischen Positionen bereit.
Bei Agnes Miegel, der dritten unumstrittenen Kandidatin für eine Straßennamensumbenennung, liegt die Sache noch einmal anders. Als 1973 eine Straße in Scheuen nach der ostpreußischen Heimatdichterin benannt wurde, war die geschichtspolitische Absicht offensichtlich. Vor dem Hintergrund der Ostpolitik der Brandt-Scheel-Regierung, die den faktischen Verzicht auf die verlorenen deutschen Ostgebiete bedeutete, wollte man einerseits den Tausenden in Celle heimisch gewordenen Ostpreußen Referenz erweisen, andererseits aber den sozialliberalen „Verzichtspolitikern“ eins auszuwischen. Vielerorts steht aktuell die Umbenennung der in ganz Westdeutschland vor allem in den 1950er Jahren nach Miegel benannten Schulen, Straßen und Plätze auf der Tagesordnung. Die Gefolgschaft Erika Steinbachs wird zwar mit Sicherheit ihre Empörung noch in die Leserbriefspalten der Celleschen Zeitung gießen. Aber außerhalb revanchistischer Zirkel dürfte die Notwendigkeit unstrittig sein, denn Werk und Person erfordern das genaue Gegenteil einer Ehrung im öffentlichen Raum.

Heinichen ist umstritten

Die von der Stadt einberufene Bewertungskommission beschäftigte sich intensiver nur mit einer kleinen Gruppe. Dazu gehörten Hörstmann, Fueß und Miegel, bei denen man sich einig war, eine Umbenennung zu befürworten. Weiter waren es die Kommunalpolitiker Wilhelm Heinichen und Erich Eichelberg, die Heimatforscher Otto von Boehn und Jürgen Ricklefs, die Heimatdichter Heinrich Hüner, Felicitas Rose und Carla Meyer-Rasch, die Industriellen Hermann von Rautenkranz und Helmut Thiele und der Architekt Otto Haesler. Alle hatten sich in unterschiedlicher Intensität mit dem NS arrangiert, ihn gestützt – und von ihm profitiert. Bei fast allen sah die Kommission am Ende keine Veranlassung, Umbenennungen zu empfehlen. Einzig Heinichen und Eichelberg scheinen noch strittig zu sein.

Wilhelm Heinichen ist seit längerem die umstrittenste Person. Er war von 1919 bis 1945 Landrat des Kreises, war Mitglied der NSDAP seit dem 1.5.1933 und ebenfalls seit 1933 Fördermitglied der SS. Nach 1945 konnte er, wenn auch auf der ehrenamtlichen Schiene seine Karriere fortsetzen: Von 1952 bis 1964 war er Oberbürgermeister der Stadt und wurde zum Ehrenbürger ernannt. Heinichen ist ein typischer Vertreter seiner Generation und des konservativen Milieus. Er passte sich 1933 bereitwillig den neuen Machthabern an und exekutierte ihre politischen Vorstellungen im Rahmen der rechtlichen Vorgaben – „übereifriger Opportunismus“, wie es Strebel charakterisiert. Dass sie auf ihrem Posten geblieben seien, „um Schlimmeres zu verhindern“, gehört zu den beliebten Nachkriegslegenden. Im Gegenteil: Sie wurden und waren Teil des Schlimmeren. Heinichen gehörte zu jenen Funktionseliten, die widerspruchslos die rassistischen Vorgaben des NS-Staates umsetzten, sowohl in der Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung als auch gegenüber den Zwangs-arbeitern. Diese Bewertung kann sich auf einige Quellen stützen. Ihr anschließen mochte sich aus der Kommission nur der Historiker Thamer.

Noch ein bisschen schwieriger ist die Beurteilung der NS-Karriere Eichelbergs. Ab Juni 1943 war er als Referent des Reichskommissars für die Provinz Südholland und die Stadt Den Haag tätig und zweiter Mann hinter dem Beauftragten Ernst Schwebel. Die Besatzungspolitik war auch in den Niederlanden von drakonischen Härten geprägt, doch da der niederländische Staat nur gegen wenige NS-Funktionäre Ermittlungsverfahren führte, ist die Quellenlage dürftig und Eichelbergs Handeln kaum abschließend zu beurteilen. – Der Jurist war von 1955 bis 1972 Stadt- bzw. Oberstadtdirektor, eine Aufarbeitung der lokalen NS-Geschichte wurde unter seiner Ägide im Grunde genommen verhindert, wie die von der Stadt Celle in dieser Phase herausgegebenen stadtgeschichtlichen Publikationen belegen.

In beiden Fällen ist vorhersehbar, dass der Stadtrat die Straßennamen beibehalten wird. Bei Eichelberg, weil sich – etwa im Unterschied zu Blanke – seine Beteiligung an bestimmten Maßnahmen des Besatzungsregiment nicht konkretisieren lässt. Im Falle Heinichens wohl auch deshalb, weil seine Kinder sich seit längerem um ein Gegenbild zu den ihn belastenden Quellen bemühen. Wie Hörstmann haben weder Eichelberg noch Heinichen je eine öffentlich Distanz zu ihren NS-Funktionen formuliert, im Unterschied zu Hörstmann finden sich bei ihnen aber eben keine relativierenden Stellungnahmen zum Nationalsozialismus.

Abschied von den Antisemiten?

Erstaunlicherweise gibt es keine Diskussion um die ausgemachten Antisemiten Werner Freiherr von Fritsch und Karl-Heinrich von Stülpnagel, und auch die Nazi-Ikone Erich Rommel scheint unantastbar. Aus unserer Sicht ist eine Umbenennung in diesen Fällen unumgänglich.

Werner Freiherr von Fritsch war der maßgebliche Organisator der deutschen Aufrüstung, ein offener Antisemit und Antidemokrat. Sein Sturz durch Hitler im Jahr 1938 im Gefolge einer Intrige kann nicht ernsthaft ein Grund sein, ihn als Vorbild erscheinen zu lassen. Der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck kündigte in seiner Amtszeit Namensänderungen bei nach Fritsch benannten Bundeswehrkasernen an, es blieb bei der Ankündigung. Die Kaserne ist mittlerweile aufgelöst, die Landesfeuerwehrschule soll auf dem Gelände angesiedelt werden. Es gibt insoweit nur gute Gründe für eine Umbenennung.

Bei Karl-Heinrich von Stülpnagel ist die Situation nur scheinbar komplizierter dadurch, dass er Kontakte zur Gruppe des 20. Juli hatte und wie die Attentäter in Plötzensee hingerichtet wurde. Dies vermag in keiner Weise seine Mitverantwortung an der Ermordung von Juden als Befehlshaber der 17. Armee wie der Initiierung des Lemberger Pogroms relativieren. Als Militärbefehlshaber in Frankreich war er zudem verantwortlich für Geiselerschießungen. Hier handelt es sich um einen Nazi-Täter im engsten Sinne des Wortes.

Schließlich Rommel: Die Wehrmachtsgeneration sonnte sich in den 1950er und 1960er Jahren im Glanze der verharmlosenden Literatur über den „Wüstenfuchs“ und die damit verbundenen Weißwäscherei der Wehrmacht. Dafür kann er nichts; der „Lieblingsgeneral“ Hitlers ist aber zum Beispiel mitverantwortlich gewesen für eine Anordnung zu unnachsichtiger Härte im Umgang mit italienischen Kriegsgefangenen. Ähnlich wie bei von Fritsch kann seine Täterschaft nicht dadurch aufgewogen werden, dass er fälschlicherweise angeschuldigt wurde zum Widerstand des 20. Juli zu gehören – und man ihn zum Selbstmord drängte.

Würden diese Straßennamen nicht geändert, könnte sich der Stadtrat den übrigen Aufwand sparen. Es kann nicht nur um lokale Größen gehen, wo gerade bei diesen drei Wehrmachtsgenerälen ihre Täterschaft und Gesinnung überhaupt keinen Zweifel lässt.

Was bleibt? Was kommt?

Die Anstrengung der Stadt ist bisher – auch im Vergleich zu anderen Städten – vorbildlich. Herausgekommen ist zunächst eine detaillierte und quellenkritische Studie von Bernhard Strebel. Über die Veröffentlichung im Internet hinaus wäre der Stadt anzuraten, die Arbeit auch als Buch zu herauszugeben – ergänzt um die Dokumentation der Konsequenzen, die der Rat daraus gezogen hat. Auch Martin Biermanns Rede zur Umbenennung im Fall „Ernst Meyer“ könnte in einem solchen Band dokumentiert werden. Denn letztlich hatte er mit dieser Rede nicht nur den Anstoß für weitere Untersuchungen gegeben, er hatte auch ein moralisches Bewertungskriterium aufgestellt, an dem sich die jetzt fälligen Entscheidungen messen lassen müssen:

„So schwer es auch fallen mag, Menschen [...] eine ehrende Bekundung wieder zu entziehen, aber wir tragen Verantwortung für zukünftige Generationen, wir müssen ihnen sagen, wer für uns ihre Vorbilder sein sollen und wofür sie geehrt worden sind.“

Bei den Neubenennungen sollte sich der Rat um die Herstellung eines Konsenses bemühen, der dem gewandelten Geschichtsbild entspricht. Was bedeutet das?
Nehmen wir die Problemzone „Agnes Miegel“: Vielleicht wäre es sinnvoll, mit einer Benennung nach z.B. Siegfried Lenz sowohl die Erinnerung an die ostpreußische Herkunft vieler Celler Familien zu würdigen als auch eine kritische Reflexion der Hintergründe von Flucht und Vertreibung anzumahnen – und dies im Wissen um die NSDAP-Mitgliedschaft des Autors als 18-Jähriger.

Vielleicht wäre es sinnvoll im so genannten Widerstandsviertel endlich zum Beispiel mit Harro Schulze-Boysen die „Rote Kapelle“ sichtbar zu machen; und mit dem Hitler-Attentäter Georg Elser einen einfachen Mann aus der Arbeiterbewegung in das Widerstandspektrum aufzunehmen. Und wäre es nicht eine Überlegung wert, den Celler Wehrmachts-Deserteur Heinz Taxweiler über einen Straßennamen zu ehren?

Als Ersatz für Hanna Fueß kommt eigentlich nur die Frauenrechtlerin Anna Kistner, die im 19. Jahrhundert in überregionaler Verbandstätigkeit, aber auch schriftstellerisch die Lage der Frauen zu verbessern suchte.

Die Adresse der Landesfeuerwehrschule könnte nach Erich Löwenstein heißen, der nach seiner erzwungenen Emigration aus Celle seine hier erworbene Leidenschaft für die Feuerwehr mit nach Argentinien nahm.

Und für das Rathaus gibt es tatsächlich nur eine Wahl: Carl Gerding, der Celler Protagonist der hannoverschen 1848er-Bewegung. In einer von ihm verfassten Resolution forderten Celler Bürger z.B. das volle Staatsbürgerrecht für alle, freies Vereinsrecht, die Gleichheit aller vor dem Gesetz und die Beschränkung der Polizeigewalt. Gerding war über den lokalen Rahmen hinaus einer der wichtigsten Akteure der bürgerlichen Revolte von 1848/49 im Königreich Hannover.

Das kleine Problem, dass es schon einen Gerdingweg gibt, ließe sich vielleicht schon dadurch lösen, dass die Rathausadresse den Namen „Carl-Gerding-Platz“ bekommt.

[kASTEN]

27 Personen waren nachweislich Mitglied der NSDAP (jeweils alphabethisch aufgelistet nach Eintrittsdaten)

vor 1933: Otto Fuhrmann, Heinrich Hüdig und Anton Raky;
ab 1933: Hermann von Brelie, Wilhelm Deecke, Hermann Heine sen., Wilhelm Heinichen, Karl Meyer, Jürgen Ricklefs und Hildegard Wallis;
ab 1937 (nach Aufhebung des vierjährigen Aufnahmestopps am 1.5.37): Erich Eichelberg, Emil Ermshaus, Fritz Grasshoff, Rudolf Harbig, Helmuth Hörstmann, Theodor Korndorff, Hermann von Rautenkranz, Karl Schiller, Hanns Martin Schleyer, Gustav Sohnemann, Ernst Sprockhoff, Georg Steinkopff, Helmut Thiele und Theodor Wilkens;
ab 1939 (nach Kriegsbeginn): Agnes Miegel, Günther Volker und Heinrich Warnke.

Mitglied der Sturmabteilungen (SA) waren Erich Eichelberg (ab Juli 1933), Emil Ermshaus (seit Juni 1933), Theodor Korndorff (seit Oktober 1933), Karl Schiller (seit Juli 1933), Ernst Sprockhoff (ab 1933) und Hans-Heinrich Warnke (ab 1933). Heinrich Hüdig war ab August 1932 Mitglied im Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK), der in der Zeit von April 1931 bis Juni 1934 eine Sondereinheit der SA bildete.

Mitglied der Schutzstaffel (SS) waren Helmuth Hörstmann (ab 1933) und Hanns Martin Schleyer (ab Juli 1933). Wilhelm Heinichen und Helmut Thiele waren ab 1933 bzw. 1938 Fördermitglieder der SS.

Mitglied der NS-Frauenschaft waren Hanna Fueß (ab 1935), Carla Meyer-Rasch (ab Oktober 1935) und Agnes Miegel (ab 1937).

Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 51, Nov./Dez. 2010, S. 26-29