Übernahme durch die NS-Volkswohlfahrt

Die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland führte zum zweiten Mal nach der kurzen Phase der Zugehörigkeit Celles zum Königreich Westfalen zur Auflösung des Waisenhauskollegiums und diesmal sogar zur Aufgabe des Stiftungscharakters des Waisenhauses.
Noch im Jahr 1933 versuchte die NSDAP, über ihre "Nationalsozialistische Volkswohlfahrt" (NSV) Einfluß auf die Geschicke des Celler Waisenhauses zu gewinnen. Der 1932 als Verein gegründete Verband erhielt im Mai 1933 den Status einer NSDAP-Parteiorganisation. Die NSV wurde nach der "Deutschen Arbeitsfront" die größte Massenorganisation des "Dritten Reichs".
Wenn es auch auf zentraler Ebene zunächst durchaus den Anschein haben konnte, als ob die NSV die Zusammenarbeit mit den großen bestehenden Wohlfahrtsverbänden suche, berichtet Vorländer schon für die Jahre 1933/34 von anderen Erfahrungen auf untergeordneten Ebenen:
"Es gab eine Menge regionaler und lokaler Vorstöße von NSV-Leitungen, die offen darauf zielten, die übrige Wohlfahrtspflege auszuschalten und ihre Einrichtungen zu übernehmen. Häufig witterten untergeordnete Führer Möglichkeiten, ihren Machtbereich zu erweitern, vielleicht auch ihre antikirchlichen Ressentiments abzureagieren; oder sie meinten einfach, besonderen Eifer an den Tag legen zu müssen. Je weiter unten in der Hierarchie, desto schwieriger war oft die Zusammenarbeit und desto intrigenreicher waren häufig die Spannungen und Kleinkriege." (231)
Eine nicht direkt einem großen Verband angehörende Einrichtung wie die Celler Waisenhaus-Stiftung mag für die NSV ein besonderes reizvolles, weil weniger widerstandskräftiges Objekt gewesen sein. Schon im Herbst 1933 hatte der Vorsitzende des Waisenhauskollegiums, Clausen, Verhandlungen über die "Eingliederung des Waisenhauses in die N.S.Volkswohlfahrt des Gaues Ost-Hannover" geführt, wie sowohl die Einladung zur Kollegiumssitzung am 6.11.1933 als auch das Sitzungsprotokoll ausweisen:
"Der Vorsitzende teilte mit, daß eine Besprechung mit dem hiesigen Leiter der N.S.Volkswohlfahrt und den Gauführern Lütt u. Stopel aus Harburg stattgefunden habe. Eine Unterstützung durch Naturalien habe bereits stattgefunden. Bindende Verabredungen seien noch nicht erfolgt, weitere Verhandlungen stünden bevor. Das Kollegium war mit den Ausführungen des Vorsitzenden einverstanden und gab ihm die Vollmacht, die Verhandlungen weiter zu führen." (232)
Clausen und die übrigen Kollegiumsmitglieder sahen sich offenbar durch die finanzielle Situation des Waisenhauses zu einer Übereinkunft mit den Nationalsozialisten gezwungen. Neben der Abhängigkeit von öffentlichen Zuschüssen war durch die von den Nazis erzwungene Auflösung der "Vereinigung der Freunde des Waisenhauses" ein Partner weggefallen, den man vermutlich durch die NSV zu ersetzen gedachte.
Für das Kollegium unerwartet, machten die Nationalsozialisten zum Jahresanfang 1934 erheblichen Druck auf die Verhandlungen. Das Kollegiumsprotokoll vom 9.1.1934 verzeichnete zwar noch, daß die Verhandlungen "leider nicht recht vorwärts gekommen" seien. Und als Ergebnis der Aussprache wird festgehalten, "daß auf alle Fälle die Selbständigkeit des Waisenhauses gewahrt bleiben müsse." Ein Brief von Clausen an Oberbürgermeister Meyer nur eine Woche später, läßt deutlich werden, wer die treibende Kraft der Angliederung des Waisenhauses an die N.S.V. war:
"Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister! Seit gestern nachmittag fangen die Ereignisse an, sich zu überstürzen. Das Abkommen zwischen dem Waisenhaus und der N.-S.-V. soll in kürzester Zeit fertig sein. Gestern hatten Colshorn (233) und ich im Waisenhause die ersten Vorbesprechungen und das Ergebnis ist der von mir aufgesetzte anliegende Vorentwurf, der sogleich Herrn Colshorn zugeht. Colshorn stellt einen Gegenentwurf auf, legt ihn mir vor und wenn wir uns über die Fassung einigen, legt er den Entwurf am Freitag Herrn Lütt bei seiner Anwesenheit hier zur endgültigen Genehmigung vor. (...) Am Sonnabend, den 27. ds.Mts. will Staatsrat Telschow unter Aufmarsch der S.A. vor dem Waisenhaus erscheinen und in feierlichem Akte das Waisenhaus in seine Schirmherrschaft übernehmen. (...) Ich teile Ihnen dies alles jetzt schon mit, damit Sie in der Lage sind, rechtzeitig Ihre Meinung geltend zu machen. Viel freie Wahl haben wir nicht, die Tonart uns gegenüber ist in aller Freundlichkeit doch recht diktatorisch - den Kraftverhältnissen entsprechend." (234)
Die schließlich geschlossene "Abmachung vom 25.1.1934 über die Eingliederung des Waisenhauses in die N.S.V." weist zwar zentrale Formulierungen und Forderungen Clausens auf (im Zitat unterstrichen), trieft aber insgesamt von nationalsozialistischer Ideologie:
"I n d e r E r k e n n t n i s
dass nur allein die von Deutschlands grossem
V o l k s k a n z l e r A d o l f H i t l e r
geschaffene Einheit Segen bringt, ist in Erinnerung an die Machtübernahme durch den Nationalsozialismus am 30.1.1933 und anlässlich des 240. Jahrestages des, im Jahre 1694 von Herzog Georg Wilhelm zu Celle gestifteten "Waisenhaus" zu Celle zwischen der N a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Volkswohlfahrt Gau Ost-Hannover und dem W a i s e n h a u s nachfolgende Verbindung geschlossen, die unter der
S c h i r m h e r r s c h a f t
D e s  j e w e i l i g e n G a u l e i t e r s der N.S.D.A.P.
steht.
Unter Aufrechterhaltung seiner Selbständigkeit, seiner Verfassung und seiner altbewährten Überlieferungen, gliedert sich das Waisenhaus der N.S.V. des Gaues Ost-Hannover an.
Der Gauleiter der N.S.V. tritt in das Waisenhauskollegium ein. Für den Fall seiner Verhinderung ist der jeweilige Kreiswalter des Kreises Celle Stadt sein ständiger Vertreter.
A l l e zur Erhaltung und zum Ausbau des Waisenhauses notwendigen Mittel stellt die N.S.V. Gau Ost-Hannover derart zur Verfügung, dass der für jedes Jahr erforderliche ordentliche Betrag im Voraus festgelegt und über dessen Verwendung vom Waisenhaus jede gewünschte Rechnung gelegt wird.
Ausserdem darf das Waisenhaus einzelne ohne öffentliche Aufforderung geleistete Zuwendung von dritter Hand auch fernerhin annehmen. Kirchenkollekten werden durch diese Verbindung nicht berührt.
Die Zusammenarbeit wird in dem Geiste nationalsozialistischer Weltanschauung geleistet und ist getragen von der Kraft des neuen Deutschlands und dem Bestreben, dem Jahrhunderte alten Waisenhaus die innere Erneuerung des deutschen Volkes in aller Zukunft zu Gute kommen zu lassen."
Diesen Vertrag hatte das Waisenhauskollegium in seiner Sitzung am 23.1.1934 "nach kurzer Besprechung" angenommen. Darüberhinaus wurde der "Eintritt der Waisenknaben in das Jungvolk und in die Hitlerjugend" beschlossen. (235)
Die 240-Jahr-Feier des Waisenhauses stand dann ganz unter dem Zeichen der Übernahme der Schirmherrschaft durch NSDAP-Gauleiter Telschow und die Angliederung an die NSV. Die NSDAP-Vertreter hielten sich in ihren Reden kurz, wobei NSV-Gauwalter Lütt darauf hinwies, daß das Celler Waisenhaus das erste von der NSV übernommene Heim sei. (236) Interessanterweise machte sich der Vorsitzende des Waisenhauskollegiums, Clausen, in der von ihm gehaltenen Festrede partiell die Erziehungsideale der Nationalsozialisten zu eigen, wenn er ausführte:
"Darum soll die Erziehung auf dem Urgrunde der Religion nicht nur ins Jenseits ragende, sondern auch vielmehr irdische Tugenden zum Ziele haben. Und da nenne ich vorzugsweise wieder drei:
Zum ersten: die bewußte Hingabe an das Vaterland. Je mehr das Kind aus seinen allerersten Entwicklungsjahren heraustritt, hat die Pflege des vaterländischen Geistes mehr und mehr in den Vordergrund zu treten. Unsere Jugend heute bricht sich da selber Bahn. Wohl vom 6. Lebensjahre an fühlt sie sich bewußt als Hitlerjungens und -mädels. Unsere Aufgabe ist es, dies in der rechten Weise zu fördern und zu vertiefen.
Zum andern: die bewußte Hingabe an die Gemeinschaft des deutschen Volkes. Das allgemeine Wohl über das eigene stellen, bereit sein, für die Bedürfnisse der Gesamtheit alle nötigen Opfer zu bringen, auch des eigenen Ich, das ist der tiefere Sinn des deutschen Sozialismus, und wo könnte dieser Geist deutscher Bürgertugenden besser in den Herzen der Kinder eingepflanzt werden als in einer so großen Familie, wie der des Waisenhauses, wo sich der Einzelne stets nach ihnen richten muß!" (237)
Trotz dieser weitgehenden ideologischen Anpassung blieb die erhoffte finanzielle Unterstützung aus. Verhandlungen über einen Waisenhausausbau im Jahr 1934 waren u.a. daran gescheitert, "dass das Interesse des Pg. Lütt am Waisenhaus zur Zeit erheblich erlahmt ist, wie die NSDAP-Kreisleitung am 1.9.1934 Oberbürgermeister Meyer mitteilte. (238)
Die Aufgabe der vertraglich vereinbarten relativen Selbständigkeit des Waisenhauses war unter diesem Gesichtspunkt nur eine Frage der Zeit. Aufgeworfen wird sie zuerst von Waisenvater Friedrich Plesse. In einem Bericht über "Ziel und Sinn der Erziehung der Kinder im Waisenhaus in Celle", gerichtet an Staatsrat Telschow und Oberlandesgerichtsrat Clausen, vom 14.4.1936 äußert er sich zu den nötigen Maßnahmen, um "die innere Aufbauarbeit des Waisenhauses voranzutreiben". An die Adressaten richtet er den Appell:
"Alle Herren des Vorstandes rufe ich zu der heiligen Pflicht auf, an dieser großen Aufgabe mitzuarbeiten und auf Mittel und Wege zu sinnen, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Wenn das Waisenhaus über ein Vermögen wie in der Vorkriegszeit verfügen könnte, dann wäre die Frage der inneren Aufbauarbeit ohne weiteres gelöst; aber das wird ein Zukunftstraum bleiben. Mir schwebt vor, dass die N.S.V. berufen wäre, hier zu helfen. Sie würde das viel leichter und freudigeren Herzens tun, wenn das Waisenhaus ganz von der N.S.V. auf der Grundlage der alten Verfassung übernommen würde." (239)
Der Vorsitzende des Waisenhauskollegiums, Clausen, griff diesen Gedanken in seiner "Denkschrift über die Zukunft des Waisenhauses Celle" (240) vom Juni 1936 auf.
Clausen sieht das Waisenhaus in einer Krise, die sich auf den Gebieten der Verwaltung und der Finanzen zeige. Zur Verwaltung merkt Clausen an:
"In einer Zeit, wo nicht nur im Reiche und in den öffentlichen Selbstverwaltungskörperschaften, sondern auch weitgehend in den privaten Betrieben, Bünden und Vereinen das Führerprinzip durchgeführt worden ist, ist das Waisenhaus in dem es vertretenden Waisenhauskollegium bei dem kollegialen Prinzip stehen geblieben. Das hat sich in dem Abschnitt starker Aufwärtsentwicklung, die das Waisenhaus seit 1924 durchmacht, vielfach als hemmend erwiesen. Das Kollegium hat durch seine Zusammensetzung eine erhebliche äußere Schwerfälligkeit in sich. (...) Noch mehr aber wird die Aktionsfähigkeit des Kollegiums und damit die Führung der Geschäfte durch innere Hemmungen beeinträchtigt. Das Kollegium ist nicht homogen zusammengesetzt. Von den 7 Mitgliedern ... sind nur die beiden Angehörigen des Gerichts dazu bestimmt, rein sachlich lediglich die Belange des Waisenhauses im Auge zu haben. Die übrigen 5 Mitglieder sitzen als Vertreter ihrer Behörde oder Körperschaft im Kollegium und sollen zugleich auch deren Belange im Auge haben. Leicht stehen hier verschiedene Interessen im ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen Gegensatz zueinander. In früheren Zeiten, wo alle Anstaltsvorstände ähnlich zusammengesetzt waren, erschien die aus derart mitspielenden fremden Interessen sich ergebenden Hemmungen naturgewollt. Heute denkt man anders. Eine Körperschaft soll einen Geist atmen und einem Willen folgen." (241)
Zur finanziellen Situation bemerkt Clausen, daß es eines so ruhmreichen Instituts und seiner Zeitgenossen "auf die Dauer unwürdig" sei, "wenn es von der Hand in den Mund leben muß und auf fremde Hilfen" angewiesen sei. Als Kern seiner Denkschrift nennt Clausen dann die möglichen Alternativen:
"Die geschilderten Zustände drängen zu dem Schluß, daß es so nicht weitergehen darf, daß etwas Durchgreifendes geschehen muß. Dies erscheint in doppelter Weise möglich:
1) entweder wird das Waisenhaus ganz kräftig neu auf eigene Füße gestellt,
2) oder das Waisenhaus gibt seine Selbständigkeit zu Gunsten der N.S.V. Auf." (242)
Die Stärkung eines selbständigen Waisenhauses hat seiner Auffassung nach zwei Vorbedingungen. Zum einen müsse die verwaltungsmäßige Neugestaltung "in der Aufrichtung des Führergrundsatzes durch starke Heraushebung der Stellung des Vorsitzenden bestehen." Zum anderen müsse die finanzielle Lage des Waisenhauses dadurch gekräftigt werden, "daß die Beihilfen durch die Zuwendung einer einmaligen großen Dotation abgelöst würden", wobei er einen Kapitalbetrag von 500 000 Reichsmark für erforderlich hält.
"Die derart gemäß a) und b) vorgenommene Stärkung des Waisenhauses hätte einen Vorzug: Das Waisenhaus wird im gewissen Maße immer selber am besten fühlen, was ihm frommt. Es würde weiter den Weg kräftigen Privatunternehmertums gehen. Zugleich würde in der Bewahrung seiner Eigengesetzlichkeit die größte Sicherung seiner fernen Zukunft liegen."
Zur zweiten Alternative, der Aufgabe der Selbständigkeit zu Gunsten der NSV, führt Clausen an, daß ein halber Schritt schon 1934 gemacht sei. "Doch geschah es seitens des Waisenhauses 'unter Aufrechterhaltung seiner Selbständigkeit, seiner Verfassung und seiner altbewährten Überlieferungen.' Es würde sich also darum handeln, daß dieser Vorbehalt fortfiele." Clausen wirft die Frage auf, ob diese 1934 getroffene Regelung auf die Dauer allseitig befriedigen könne:
"Es hat sich hier alter Geist mit neuem Geist in einer Weise verbunden, wie es eben sonst in Deutschland seit dem Umbruch gerade nicht mehr angewendet wird. Der alte Geist verjüngt sich zwar an dem neuen Geist und sucht ihm im Rahmen seiner Verfassung und seiner alten und guten Überlieferungen vollauf genüge zu tun. In Wirklichkeit aber befriedigt dies doch nicht den vorwärtsstürmenden neuen Geist. Dieser andererseits sieht sich in seinem Drange, Neues und Großes zu schaffen, gehemmt durch die Schranken, die ihm der Vertrag nun einmal gesetzt hat."
Ohne ein eigentliches Argument für die Aufgabe der Selbständigkeit zu nennen, hebt Clausen hervor, daß das Schicksal der Waisenkinder bei der NSV gut aufgehoben wäre, denn ihre ureigenste Aufgabe sei, für das Wohl der Jugend zu sorgen.
Schon in der am 13.6.1936 auf Betreiben von Gauamtsleiter Lütt angesetzten Kollegiumssitzung fiel die Entscheidung. "Herr Lütt legte seinen und des Gauleiters Standpunkt dahin klar, daß nur die Übernahme des W'es durch die N.S.V. in Frage komme. Es sei selbstverständlich und entspreche dem Willen des Führers, daß hierbei die Überlieferungen des Wes nach Möglichkeit weitergepflegt würden. Die Stellung des Waisenvaters bleibe unberührt." (243)
Landrat Heinichen führte unter Zustimmung von Oberbürgermeister Meyer aus, "daß die Zuwendung von 500.000 M. unmöglich sei." Die übrigen Mitglieder schlossen sich den vorgetragenen Ansichten an und der Vorsitzende erklärte, "wie beglückt er sei, nunmehr die Zukunft des Wes gesichert zu haben." (244)
Am 15.12.1936 beschloß das Kollegium, mit dem 1. Januar 1937 das Waisenhaus verwaltungsmäßig der NSV zu übergeben. Und in der letzten Kollegiumssitzung am 1.6.1937 verzeichnet das Protokoll: "Das Waisenhaus ändert seine Verfassung dahin ab, daß sein Vermögen mit dem Erlöschen des Waisenhauses als einer selbständigen Stiftung auf die N.S.Volkswohlfahrt e.V. Berlin übergeht." (245)
Noch am selben Tag wurde der Übernahmevertrag zwischen Waisenhaus und NSV geschlossen:
"Das Waisenhaus überträgt sich auf die NS-Volkswohlfahrt, e.V., mit seinen Aufgaben an der verwaisten Jugend sowie seinem gesamten aktiven und passiven Vermögen dergestalt, dass das Waisenhaus seine selbständige Rechtspersönlichkeit aufgibt und in die NS-Volkswohlfahrt, e.V. vollständig aufgeht.Die NS-Volkswohlfahrt, e.V., übernimmt das seine Rechtspersönlichkeit aufgebende Waisenhaus mit der Fortführung seines Stiftungszwecks sowie seinem gesamten aktiven und passiven Vermögen unter vollständiger Eingliederung in den Verband der NS-Volkswohlfahrt, e.V., dergestalt, dass sie das Waisenhaus Celle in sich fortsetzt." (246)
Die in ihrer Nazi-Parteipresse aufgestellte Behauptung, das Celler Waisenhaus sei die erste NSV-Jugendheimstätte im Reich, muß mit Skepsis betrachtet werden. Eine Statistik über die NSV-Jugendhilfe weist für das Jahr 1936 insgesamt 26 NSV-Jugendheimstätten aus. Bis 1941 allerdings sollte diese Zahl auf 92 derartige Einrichtungen anwachsen - ein Indiz für das massive Eingliederungsbestreben der NSV reichsweit. (247)
Die Liquidation der Waisenhaus-Stiftung zog sich aufgrund einiger Rechtsprobleme und eines Sperrjahres bei der Vermögensübergabe hin, so daß man schließlich übereinkam, die Übergabe in einem feierlichen Akt zum 245jährigen Bestehen des Waisenhauses zu vollziehen. Die dabei gehaltenen Reden sind in einer Festschrift dokumentiert. Obwohl sie natürlich mit Vorsicht zu lesen und zu interpretieren sind, sei doch kurz zitiert, wie Clausen die Übergabe bewertete:
"... Und so kam der Tag, wo das Kollegium aus eigenem, einstimmig gefaßten Entschluß das Geschick des Waisenhauses dorthin trug, wo die Herzen durch das Zusammentreffen zweier gottgewollter Strömungen schon bereitet waren, in neuem Willen und neuem Anfang das Waisenhaus zur Betreuung für alle Zeiten zu übernehmen. Wir wußten schon lange, daß die Partei und die N.S.-Volkswohlfahrt diesen Wunsch hegten. Aber ich muß das Zeugnis ausstellen, daß sie uns nicht getrieben haben, sondern in vollendetem Zurückhalten gewartet haben, bis aus freiem Entschluß das Waisenhaus selber zu ihnen kam." (248)
Die Angliederung an und schließliche Übernahme durch die NSV muß hauptsächlich dem Drängen der nationalsozialistischen Wohlfahrtsorganisation auf Gleichschaltung der Anstaltserziehung wie auch der ausgeprägten finanziellen Abhängigkeit zugeschrieben werden. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß der Vorsitzende wie auch andere Mitglieder des Waisenhauskollegiums und Waisenvater Plesse ihre vielleicht anfängliche Distanz zum Nationalsozialismus und seinen Erziehungszielen aufgaben.

Fußnoten:
231 Vorländer, Herwart: Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation, Boppard am Rhein 1988, S. 27
232 Protokoll vom 6.11.1933 in: StA L 3, 38
233 Colshorn war Leiter der Celler Ortsgruppe der NSV.
234 StA L 3, 14
235 Vgl. Protokoll vom 23.1.1934 in: StA L 3, 38
236 Vgl. CZ, 29.1.1934
237 StA L 3, 3b
238 Vgl. StA 20 B 23 I
239 Plesse vom 14.4.1936 in: StA L 3, 3b
240 StA L 3, 3b
241 StA L 3, 3b
242 StA L 3, 3b
243 Protokoll vom 13.6.1936 in: StA L 3, 38
244 ebd.
245 Protokoll vom 1.6.1937 in: StA L 3, 38
246 StA L 3, 14
247 Vgl. Vorländer 1988, S. 287
248 Die feierliche Übergabe des Waisenhauses in Celle an die NS. Volkswohlfahrt, S. 16

Aus: ders., Das Celler Waisenhaus. Zur Geschichte einer 300 Jahre alten Stiftung. Celle, S. 115-122, 1994