Fast alle großen Betriebe in Celle haben Zwangsarbeiter beschäftigt

CELLE (mk). Im Dezember 1944 erreichte die Beschäftigung von Zwangsarbeitern in Celle mit 3045 Menschen ihren Höchststand. Fast alle großen Betriebe haben Zwangsarbeiter beschäftigt. Die Schwerpunkte lagen in der Landwirtschaft und der Industrie. Das sagt Dr. Mijndert Bertram in einem Gespräch mit der CZ. Der Celler Historiker hat sich intensiv mit der Problematik auseinandergesetzt.

CZ: Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kamen verstärkt ausländische Arbeitskräfte nach Celle. Warum? Und aus welchen Ländern kamen sie?

Bertram: Infolge der Einberufung von immer mehr Männern zur Wehrmacht und der Ankurbelung der Rüstungsproduktion entstand in Deutschland ein zunehmender Mangel an Arbeitskräften - so auch in Celle. Aus ideologischen und propagandistischen Gründen verzichtete das NS-Regime zunächst auf die völlige Mobilisierung der "weiblichen Bevölkerung: Stattdessen setzte man darauf, den kriegsbedingten Mehrbedarf durch Kriegsgefangene und Zivilarbeiter aus den besetzten Ländern zu decken.

CZ: Wie viele Zwangsarbeiter wurden Ihres Wissens in Stadt und Landkreis Celle beschäftigt?

Bertram: Hier beginnen die Schwierigkeiten mit der Begrifflichkeit: Nicht alle ausländischen Arbeitskräfte waren Zwangsarbeiter. Vor allem aus den west- und nordeuropäischen Ländern kamen - zumindest in der Anfangsphase des Krieges - viele Männer und Frauen 'freiwillig' nach Deutschland: Erst als dieses Potential nicht mehr ausreichte, griff man verstärkt auf Kriegsgefangene und zwangsweise rekrutierte Zivilarbeiter zurück. Aber auch diese Unterscheidung geht noch nicht tief genug. Ein großer Teil derjenigen, die sich aus freien Stücken zum Einsatz in Deutschland meldeten, bereute diese Entscheidung später. Umgekehrt wiederum sträubten sich nach Kriegsende viele zwangsverpflichtete Osteuropäer dagegen, in Stalins Machtbereich zurückkehren zu müssen. Wenn es möglich wäre, müsste man jedes individuelle Schicksal gesondert betrachten, da eine Verallgemeinerung dem Einzelfall nicht gerecht wäre. In der Stadt Celle begann der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte Ende 1939 mit dem Eintreffen der ersten polnischen Zivilarbeiter und -arbeiterinnen. Nach und nach kamen Menschen aus fast allen von der Wehrmacht besetzten Ländern Europas hinzu. Ihre Zahl stieg aber kontinuierlich an, um im Dezember 1944 mit 3045 ihren Höchststand zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt waren schätzungsweise 12 bis 15 Prozent aller in der Stadt Beschäftigten Ausländer. Für den Landkreis liegen mir keine Zahlen vor. Hier dürfte der Ausländeranteil aber noch größer gewesen sein, da er im Bereich der Landwirtschaft insgesamt bei rund 60 Prozent lag.

CZ: Wo waren die Zwangsarbeiter in Celle untergebracht?

Bertram: Zunächst vorwiegend in Einzelquartieren, die über das ganze Stadtgebiet verteilt waren. Diese verstreute Unterbringung erschwerte jedoch die polizeiliche Überwachung der Fremdarbeiter, so dass Anfang 1941 mit der Einrichtung von Sammellagern begonnen wurde. Größere Betriebe unterhielten eigene Lager. Die nicht in diesen untergebrachten Personen wurden in einem um die Jahreswende 1942/43 an der Burgstraße errichteten Lagerkomplex zusammengefasst.
 

CZ: Wie wurden die Zwangsarbeiter behandelt?

Bertram: Die Behandlung war nach Nationalitäten abgestuft. Westeuropäer genossen gewisse Privilegien. Den Serben ging es schon schlechter, und die Polen, die weithin als "rassisch minderwertig" betrachtet wurden, sahen sich einer systematischen Diskriminierung ausgesetzt. Am untersten Ende der Skala rangierten jedoch die so genannten Ostarbeiter aus dem Gebiet der damaligen Sowjetunion, die kaum ausreichend ernährt wurden und häufig Misshandlungen über sich ergehen lassen mussten. Einen Sonderfall stellten die Italiener dar. Als Staatsangehörige einer verbündeten Nation erfuhren sie während der ersten Kriegsjahre besondere Vorzüge. Nach dem Sturz Mussolinis und dem Frontwechsel Italiens schlug die Stimmung ihnen gegenüber jedoch in Feindseligkeit und Verachtung um und dementsprechend änderte sich ihre Behandlung.
 

CZ: Welche Firmen haben Zwangsarbeiter beschäftigt? Oder anders gefragt: Waren nicht in fast allen betrieben Zwangsarbeiter tätig? Und in welchen Bereichen besonders stark?

Bertram: Tatsächlich kann man sagen, dass fast alle größeren Betriebe sich ausländischer Arbeitskräfte bedienten. Die Schwerpunkte hierbei lagen in der Landwirtschaft und der Industrie, aber auch viele Privathaushalte beschäftigten Ausländer. So gab es in Celle beispielsweise zahlreiche ukrainische Dienstmädchen.
 

CZ: Auch die Stadt Celle hat Zwangsarbeiter beschäftigt.

Bertram: Das Tiefbauamt der Stadt Celle hat Ausländer beschäftigt. Für sie bestand ein Lager an der Allerstraße.

CZ: Was meinen Sie persönlich, sollten alle Betriebe, bei denen Zwangsarbeiter tätig waren, einen Beitrag für den Entschädigungsfonds leisten?

Bertram: Persönlich finde ich es beschämend, dass die deutsche Industrie sich an dem Entschädigungsfond im Umfang von insgesamt 10 Milliarden Mark nur mit 5 Milliarden Mark beteiligt, von denen sie die Hälfte auch noch steuerlich zurück erstattet bekommt. Das heißt, dass die öffentliche Hand - und damit der Steuerzahler - 75 Prozent der Summe trägt. Aus meiner Sicht ist das eine unangemessene Lösung. Andererseits darf eine Entschädigungszahlung die betreffenden Betriebe aber natürlich auch nicht in den Ruin treiben. Wichtiger scheint mir, dass man sich dazu bekennt, an der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte beteiligt gewesen zu sein. Für ebenso wichtig halte ich jedoch, dass mit der jetzt getroffenen Vereinbarung Rechtssicherheit eintritt. Es darf nicht sein, dass in ein paar Jahren neue Forderungen auf den Tisch gelegt werden. Im übrigen ist zu hoffen, dass die nun ausgehandelte Zahlung die richtigen Empfänger erreicht.

Interview mit Mijndert Bertram, Cellesche Zeitung, 21.12.1999

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