"Es sah aus wie Sodom und Gomorra"

Am Mittwoch wurde in der Trift ein Denkmal für die Opfer eines dunklen Kapitels in der Celler Geschichte eingeweiht. Bei einem Bombenangriff auf den Güterbahnhof am 8. April 1945 waren auch zwei Züge mit KZ-Häftlingen getroffen worden. Die Überlebenden versuchten zu fliehen und wurden noch in den letzten Kriegstagen - am 12. April marschierten die Alliierten in Celle ein - oft gnadenlos gejagt. Auf Einladung der Stadt Celle nahm auch Marian Gnyp, der diese Ereignisse als Opfer miterlebt hat, an der Denkmalseinweihung teil. Anschließend erzählte er dem CELLER KURIER, was er in dieser Zeit erlebt hat.

Ein Augenzeuge des 8. April 1945 berichtet.

1945 war Marian Gnyp 21 Jahre alt. Drei Jahre zuvor war er verhaftet worden. Es hätte in der Nähe seines Heimatdorfes Aktionen von Partisanen gegeben und die Deutschen glaubten; es wären die Einwohner gewesen. "Am 28. Juni 1942 umstellten sie sieben Dörfer", erzählte Gnyp. Nach der zweifelhaften Liste eines Spitzels hätten sie dann junge Männer verhaftet.
So kam Marian Gnyp nach Ausschwitz. Als politische Häftlinge lebten sie in einem Extra- Bereich und teilten nicht das Schicksal tausender Juden, die dort ermordet wurden. Er mußte dort in der Lagerschneiderei arbeiten.
Im März 1943 kam der Lagerkommandant von Neuengamme nach Ausschwitz und suchte gesundaussehende Häftlinge für schwere Arbeiten. Mit Hilfe eines Arztes suchte er etwa 1.000 Arbeitskräfte aus. "Durch mein rundes Gesicht sah ich immer gesund aus", erklärt sich Marian Gnyp seine Verlegung.
Ihre Baracke in Neuengamme war voll mit dreistöckigen Betten, und je zwei Häftlinge mußten sich ein schmales Bett und eine Decke teilen. Marian Gnyp erinnert sich noch, "wie wir bei Schnee und kaltem Wind froren".
Gearbeitet hat er zunächst im dortigen Klinkerwerk. "Wir haben Lehm für die Ziegel gegraben". Oft seien ihre Gruben eingestürzt, einige starben dabei. Später wurde er dann bei der Elbregulierung eingesetzt.
Nach drei Monaten wurde er nach Salzgitter verlegt zum Aufbau der sogenannten "Hermann-Göring-Werke". Er erinnert sich noch, daß ihre Baracken unter einer Brücke lagen. "Wir mußten sie erst auf bauen", und zwar nach der täglichen zwölfstündigen Arbeit in der Fabrik.
"Die Fabrikarbeit war sehr schwer". Zuerst mußten sie die Hallen des Rüstungsbetriebes bauen, später dann am Hochofen die Schlacke abtransportieren. "35 Kilogramm wog ich damals nur noch":
Bis zum August 1944 bekam er noch regelmäßig ein kleines Freßpaket aus der Heimat von seinen Eltern: "Das hat mir sehr geholfen." Russischen, deutschen und jüdischen Mithäftlingen war das nicht erIaubt. So teilten sie das wenige.
Am 7. April 1945 wurde das Lager vor den herannahenden aIliierten Trappen geräumt. Ein Zug sollte sie nach Bergen-Belsen bringen; wo sie - wie Marian Gnyp nach dem Krieg erfuhr - sterben sollten.
60 oben offene Kohlewaggons wurden dazu zusammengestellt. In jedem fünften saßen Wachmannschaften der SS, die übrigen waren mit je etwa 50 Lagerinsassen überfüllt. "Wir fuhren die ganze Nacht."
Am Morgen des 8. April kamen sie nach Celle, wo sie stundenlang auf dem Güterbahnhof warten mußten. Gnyp erinnert sich, daß dort auch ein Munitionszug wartete. Außerdem stand auf einem Gleis ein Zug mit geschlossenen Güterwagen. Aus den kleinen Luken seines Kohlewaggons konnte Marian Gnyp dort Frauen und Kinder in der gestreiften KZ-Kleidung erkennen.
Nachdem sie schon etwa sechs Stunden auf dem Güterbahnhof standen, geschah das Unheil. Lautes Motorengeräusch habe die tieffliegenden amerikanischen Bomber angekündigt. Marian Gnyp erinnert sich noch genau wie daraufhin die Hunde der Wachmannschaften anfingen, "wie verrückt zu bellen". Und dann seien die ersten Bomben gefallen.
Eine sei nicht weit von ihnen weg explodiert und habe den Waggon vor ihnen zerstört. Gnyp wußte, daß sich darin auch eine griechische Familie befand. Er selbst hätte Glück im Unglück. Durch die Detonation war ihr Waggon umgekippt und er gelangte leichtverletzt hinaus ins Freie.
Bomberlärm und Schreie der Angst, Feuer und dichter Rauch, Trümmer und verwundete oder zerfetzte Menschen hätten ein Bild entstehen lassen, daß Marian Gnyp mit der biblischen Geschichte von Sodom und Gomorra vergleicht.
Die Wachmannschaften hatten sich schon längst in Deckung gebracht und auch er hatte nur dies Ziel. "Zuerst sprang ich in einen Graben". Dann sei er durch einen noch "heißen Bombentrichter" in den Wald gelaufen. Zu dritt haben sie dann versucht; zu den Engländern durchzukommen.
Drei Tage war er unterwegs, etwa in Richtung Hambühren. "Wir aßen Gras", erinnert er sich, und sie hielten sich versteckt. Nur einmal konnten sie nicht mehr rechtzeitig ausweichen. "Drei alte Männer vom Volkssturm standen plötzlich vor uns", in einiger Entfernung. Der eine habe etwas von "laufen lassen" gesagt, aber plötzlich sei das Wort "erschießen" gefallen.
In panischer Angst lief er um sein Leben. Seine Begleiter, ein Sinti und ein Russe, blieben. Gnyp hörte die Schüsse und sah am nächsten Tag an der Stelle ein frisches Grab.
Das Kriegsende erlebte er im Lager der "Muna" in Hambühren. Hier bei den Zwangsarbeitern der Munitionsfabrik hatte er Unterschlupf gefunden. "Gleich am ersten Tag bin ich zu Fuß nach Celle gegangen". Mit Staunen und Freude schaute er "drei Stunden lang" zu, wie die englischen Truppen auf einer Pontonbrücke über die Aller setzten. Zu Fuß ist er dann nach Bergen-Belsen gegangen, um Freunde zu suchen. "Da hörte man dann, der ist tot und der ist tot ..."
Zurück in Celle begegnete er einem englischen Offizier, der als Pole bei den Alliierten mitgekämpft hatte. Durch ihn bekam er Arbeit als Fahrer bei den britischen Truppen. Denn zu einer in Celle stationierten Division gehörte auch eine Gruppe von polnischen Freiwilligen, erklärte Marian Gnyp.
Ein Sammeltransport brachte ihn dann am 2. September 1946 von Wolfsburg nach Polen. Der Empfang zu Hause war dann schon durch den "Kalten Krieg" zwischen Ost und West bestimmt. Marian Gnyp hat später in Szczecin (Stettin) Bautechniker gelernt und lange als Bauleiter gearbeitet. Heute ist er Rentner und leitet die örtliche Organisation der ehemaligen Häftlinge.
Er denkt heute nicht mit Haß an Deutschland. "Celle hat mir gut gefallen", und er denke dabei nicht immer an die Vergangenheit. Es sei das politische System damals gewesen, unter dem nicht nur er gelitten habe. "Das ist nun überwunden, genauso wie in Polen nun wieder Freiheit herrscht, meint er.
"In die Zukunft blicken" sei wichtig. Nur eine Sache möchte er noch geregelt haben. Er lebt heute von umgerechnet 400 Mark Rente und die Preise in Polen erreichten schon westliches Niveau. Seine Jugend habe er in Konzentrationslagern opfern müssen und für deutsche Fabriken gearbeitet, ohne dafür je eine Entschädigung bekommen zu haben. Das Thema wolle er bei der 50-Jahr-Feier von Salzgitter ansprechen; zu der an diesem Wochenende 31 Überlebende des dortigen Lagers Drütte eingeladen worden sind

Aus: Celler Kurier vom 12.04.1992