Die Welt ohne Zuchthaus. Erinnerung an einen avantgardistischen Strafanstaltsdirektor

Für Ausnahmegestalten ist in Celle nie viel Platz gewesen, wenn denn überhaupt welche den Mut hatten, hier auf die Welt zu kommen oder gar hierherzuziehen. Gar im Falle eines Oberaufsehers hört sich der gewählte Titel reichlich hochgezogen und übertrieben an, ist es aber nicht. Denn in der Person von FRITZ KLEIST kam 1928 ein Mann in die norddeutsche Tiefebene, nach Celle, der den desolaten Zustand des großen Gefängnisses kurieren, mithin Reformen durchführen sollte.

Alle die Jahre vorher kommandierten ausgediente Militärs und Haudegen den Anstaltsbetrieb, an humanen Strafvollzug, wie er heute immerhin verbal en vogue ist, war nicht zu denken. Eine 1921 vorgelegte juristische Dissertation (nebenbei: sie umfasst ganze 6 Seiten und nennt 10 Bücher als Referenz!) meinte denn auch ohne jede Ironie und Hintergedanken: "Das in Celle gebräuchliche System von Disziplinarstrafen - Hunger, Einsperren in die Arrestzelle, Züchtigung mit der Peitsche, - war ein vollständiges und mildes. (...) Wohltuend fällt auch die verständige und menschenfreundliche Behandlung der Züchtlinge auf, die auch im Verbrecher immer noch den Menschen sieht. Alles in allem hat die Celler Strafanstalt, die in diesen Jahren auf ein zweihundertjähriges Bestehen zurückblicken kann, das Recht, stolz zu sein auf ihre, wenn auch nicht glanzvolle, so doch arbeits- und segensreiche Entwicklung." (1)
Doch so segensreich blieb es unter der Ägidie des Hauptmann Wiese, der die Leitung der Anstalt 1919 in Händen hatte und diese gleichfalls vom aristokratischen Hauptmann a.D., Herrn v. Beaulieu ühernahm, keineswegs. Die Verhältnisse im Celler Zuchthaus spotteten jeder Beschreibung, die Not der Gefangenen hatte einen gewissen Siedepunkt erreicht, und nun 1928, war höchste Eile geboten, um den Aufstand der Insassen zu verhindern.
Fritz Kleist, ein Lehrer aus Breslau, der dort bereits gute Erfolge mit seinen neuen Methoden gemacht hatte, wurde nach Celle geholt, um, so meinten damals die Verantwortlichen, der Rebellion mit geschickter Sozialpädagogik die Spitze abzubrechen. Gewiß, die Gefangenen stiegen nicht auf die Dächer, forderten nicht auf diese spektakuläre Weise ihre Rechte; aber, was keiner der justiziell-militärischen Kreise gewollt hatte, kam: die Aufhebung überflüssiger Zwänge und Maßregelungen, die Abschaffung demütigender Züchtigungen, die Öffnung nach draußen.
In einem seiner Bücher, die er neben zahlreichen Aufsätzen für psychologische Zeitschriften verfaßte, strich Fritz Kleist die Dialektik von Strafe und Rehabilitierung scharf heraus: "Wir änderten und besserten die Verhältnisse im Strafvollzuge. Wir 'erzogen' die Rechtsbrecher für die soziale Gesellschaft. Nach der Entlassung waren sie, geeignet und gewillt, sozial zu leben. Sie fanden keine soziale Gesellschaft. Sie hatten es im Gefängnis besser. Sie fanden Verständnis und Anteilnahme. Das ist die das Einzelschicksal (der Entlassenen) überwölbende Zage: ein Himmel - voll drohender, lastender und hängender Wolken mit einer Luft voll Schwefelgeruch, wie vor einem schweren Gewitter. (...) Die Gesellschaft gestattet ihm aus Humanität im Gefängnis gestrichene Wände, (Es sei erinnert an eins CZ-Schlagzeile aus den letzten Jahren, als man die Außenfassade des Gebäudes mit gelber Farbe bepinselte, und die CZ gütigst anmerkte, daß nun keiner mehr hinter grauer Zuchthausmauern leben müsse. R.M.) Blumentöpfe, er darf sich einen Kanarienvogel halten, schließlich eine ganze Hecke ---! aber!!! sie verweigert ihm nach der Entlassung das Brot!? (2)
Und Kleist fügt hinzu, eine Wendung seines Freundes Theodor Lessing benutzend: "Der Kampf gegen die Kriminalität darf die Erziehung des Rechtsbrechers nicht vernachlässigen, er muß aber in stärkstem Ausmaße ei.n Kampf um die kommende - die notwendende - die notwendige Gesellschaft sein.
Von 1928 bis April 1933 tat Kleist alles in seiner Macht stehende, um die Not der Verurteilten zu mindern ohne dabei den weiterhin geltenden Grundsatz der Rechtsförmigkeit zu verletzen. Er schöpfte die Möglichkeiten der fortschrittlichen Reformmodelle, die in der Weimarer Republik meistens nur auf dem Papier standen, voll aus. Dazu gehörte die Einführung des Drei-Stufen-Vollzugs, für Celler Verhältnisse eine beispiellose Tat, ihr folgte nach 1933 der "Ascheimer der deutschen Volksgemeinschaft" (so der aus Celle stammende Nazijurist und Präsident des sog. 'Volksgerichtshofs', Roland Freisler, über die Funktion der Strafanstalt).
In dieser Hinsicht konnte Celle genügend Tradition vorweisen, die zur Kastration verurteilten Gefangenen ('Entmannung' nannte man das) wurden allerdings nach Berlin geschickt. Sonst jedoch nimmt sich der Riesenkäfig für Menschen durch die Jahrhunderte hinweg als veritable Hölle aus. Ein auf Basis langjähriger Forschung geschriebenes Buch über sieben Jahrhunderte Strafvollzug (3) führt den Beweis vom Irrwitz staatlicher Mordinstitutionen, in denen der Mensch als beliebig zu zerlegendes Stück Fleisch behandelt wurde. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts reichen die Reste von Tortur und Folter, mit denen oft unschuldige Menschen mißhandelt oder zu Tode gequält worden sind. Noch 1851 flechtete man Verurteilte auf das Rad, das Symbol der mittelalterlichen Schandtaten, wobei aber dem Henker die staatliche Weisung gegeben war, den Delinquenten vorher unbemerkt zu erwürgen: So klein können 'humanitäre Fortschritte' im Strafvollzug aussehen. Immerhin, vier Jahre vorher sah ein Entwurf zum preußischen Strafgesetzbuch noch die öffentliche Ausstellung des abgeschlagenen Kopfes und der rechten Hand vor. Und es war 1813 möglich, den Scheiterhaufen in Berlin neu zu entfachen oder 1836 eine Frau als Hexe zu ertränken. Zu diesem Zeitpunkt standen die Werke der klassischen bürgerlichen Aufklärung gesammelt in den Schränken.

Erst das keineswegs harmonierende Zusammenspiel von ökonomischer Rationalität und humanitärer Ethik setzte diesen Formen der Gerichtsbarkeit ein Ende. Danach dauerte es immer noch lang genug, bis in der gedrängt-demokratisch-inspirierten Zeit von 1918-33 grundlegende Maßnahmen für die Umorganisation des Zuchthauses unternommen wurden.
Und wenn Kaiser Wilhelm zwo aus Anlaß eines Stadtbesuchs in Celle im Jahre 1910 vor dem Zuchthaustor vorfuhr, um dort zu logieren, da man der Meinung war, es müsse um das herzögliche Schloß sich handeln, so vergißt diese Anekdote sich schnell bei der Lektüre der Anstaltsfolianten, die von den Schicksalen verendeter Insassen dürre M.tteilungen über Geburt, Straftat und Tod abgeben. Hart, kalt, bürologisch sind die Verfahrensweisen und ihre schriftgewordene Gestalt in den amtlichen Anmerkungen über Menschen, die nach langer Zuchthauspein kurz vor der Entlassung sterben, weil sie die Einkäfigung nicht lange genug ertragen hatten. Die "Hölle von Celle" ersteht wieder auf in einer Sammlung von Marterwerkzeugen, Ketten, Prügeln, Tortursteinen und Handfesseln sowie einer Todeszelle, die heute noch im Obergeschoß der Strafanstalt,auf Antrag zu besichtigen ist. Hensel weist aber auf die Flugsigkeit des niedersächsischen Justizministeriums hin, das Ende der 70er Jahre plante, schöne moderne Zellen in Salinenmoor bauen zu lassen, um Atomkraftgegner darin zu beherbergen.
Gegenwärtig ist es um die Celler Anstalt auch nicht zum besten bestellt, so stehen für 900 Gefangene gerade ein Arzt, ein Fürsorger, ein Lehrer und ein überlasteter Pfarrer zur Verfügung. Der Teufelskreis bleibt in vielen Fällen geschlossen: keine Arbeit, keine Wohnung draußen, neue Straftat, neuer Knast. Das neurotische Sicherheitsverlangen der hiesigen Anstaltsbehörde brachte es dagegen mit sich, daß nach einem Pseudo-Attentat an einer Außenmauer sofort sämtliche Bäume, Sträucher und Büsche abrasiert, Spähkameras installiert wurden und bald auch der Hochsicherheitstrakt (ein weiteres Beispiel für die unbegrenzte Fähigkeit der deutschen Sprache zu Komposita) kam.

Eine "Welt ohne Zuchthaus" (4), diese Total-Utopie, die Kleist keinesfalls naiv ausbreitete, ist ferner gerückt denn je. An Symbolen persönlichen Einsatzes fehlt es, denn die Nüchternheit der verwalteten Betonburgen gestattet keinen Eigensinn, kein Wagnis. Die seelenlose Gerechtigkeit dokumentiert sich nicht zuletzt in der neuen Architektonik einer anonymen Grauputzkunst, umlagert von endlosen Ketten gleißend in die Nacht strahlender Leuchtpfeiler.
Sätze aus unvorstellbaren Zeiten wie diese: "Heute sind die Strafhäuser Häuser reichflutenden inneren Lebens, an dem jeder Rechtsbrecher teilhaben kann, der guten Willens ist" - Kleist löste sie ein.
Er ließ das feste Haus öffnen für kulturelle Veranstaltungen und Vorträge, richtete Aufenthaltsräume, die vom Üblichen erheblich abwichen, ein. Einer davon ist geradezu legendär und war doch bloß keine Legende, war Wirklichkeit, ein Freiheitssymbol und eine Enklave des Ungewöhnlichen: das Cafe Kleist.
Da saßen Gefangene und Besucher an gedeckten Tischen mit normalen Kaffeetassen, hörten Joachim Ringelnatz seine Gedichte und Verse vortragen oder Theodor Lessing, der Kleist publizistisch unterstützte, als ein christlich-sozialer Reichstagsabgeordneter und Präsident des Strafvollzugsamtes zu Hannover eine ungewöhnliche Weihnachtsfeier dazu benutzen wollte, den mißliebigen Sozialisten Kleist zu schassen. (5)
Kleist blieb und hatte doch zu wenig Zeit, die von ihm stetig propagierte kulturelle Gefangenenfürsorge fortzuentwickeln. Aus der Zwangsanstalt war für Augenblicke eine Welt ohne Angst, Langeweile und Sadismus erwachsen; als die Nazis ihr Regiment antraten, drangen die Gewaltphantasien und Blutmythen wieder an die Oberfläche.
Ein Staatsanwalt namens Dr. Lewark führte von April bis Juli 1933 die nun wieder terroristisch aufgebaute Anstalt; bis dann 1934, zwischendurch gaben Gerichtsassessoren ein Vertreter-Intermezzo, der berüchtigte Hauptmann Otto Marloh, der 1937 auch noch zum Regierungsrat ernannt wurde, das vollständige Ende jeder Reform sanktionierte. Marloh hatte im März 1919 willkürlich 29 Mitglieder der Volksmarinedivision erschießen lassen. Er wurde zwar angeklagt, dann aber freigesprochen, 1935 kam es zur endgültigen Niederschlagung seines Prozesses. (7) Bestraft worden war Marloh wegen unerlaubter Entfernung vom Dienst, nicht aber, weil er ohne ersichtlichen Grund Menschen töten ließ. Bereits 1934, also im Jahr von Marlohs Amtsantritt, empfahl der spätere Blutrichter Freisler das Handbeil als die Tötungsform, die dem "deutschen Empfinden am meisten entspricht".

Überlebt hat Kleist als suspendierter Oberlehrer im Ruhestand, doch leider verlieren sich seine biographischen Spuren nach dem Krieg. Vermutlich ist er in den fünfziger Jahren gestorben, in der Einsamkeit, die die Bundesrepublik für diejenigen bereithielt, die vor 1933 mutig dem demokratischen Prinzip ihre Stimme gaben. Dem derzeitigen Leiter der JVA Celle, Dr. Kühling, war auf Anfrage der Name Fritz Kleist überhaupt kein Begriff. Doch wozu soll man auch Interesse für die historische Verfasstheit einer Institution haben? Es reicht hin, wenn verwaltet wird, wenn Video-Kontrolle die Reflexion ersetzt.
In Celle ist noch viel bürgerliche Aufklärung nachzuholen, viel Heimatscholle und Deutschnationales abzustoßen. Fritz Kleist ist eine minimale Größe in Relation zu dem, was hier seitdem auf die Beine gestellt worden ist. Doch ohne solche Gegenfiguren, Ausnahmegestalten, verfiele man auf die Art von Larmoyanz, die schon wieder die fünfziger Jahre herannahen sieht und vergißt, wie schrecklich-öde diese im Vergleich zu den rollenden Achtzigern waren. Eine Gegenkultur bleibt zwar immer Anhängsel der offiziellen Kultur, doch in dem Maße, wie sich diese selbst vernichtet, entsteht das Vakuum, in das hinein die avantgardistischen Kräfte hineinstoßen können.
Daß man uns diese Plattform wegnehmen will, versteht sich; indem wir uns erinnern an Vorkämpfer der 2oer Jahre, verschaffen•wir uns Gewißheit darüber, daß nicht alles so enden muß, wie es einst hoffnungsvoll begann. Die Welt ohne Zuchthaus? So schnell wohl nicht. Schmunzelt ruhig über das Cafe Kleist, es verkörperte, streng genommen, auf undramatische Weise das Ideal demokratischer Geselligkeit.

Rainer Marwedel

In der zahlreichen heimatkundlichen Literatur über Celle wird Fritz Kleist unseres Wissens nach nirgendwo gewürdigt. Auch das neue Celler Fassadenbuch, herausgegeben von Kandel u.a., schweigt ihn aus. Der Beitrag Rainer Marwedels war für das Buch "Hinter den Fassaden" vorgesehen. Er ist dort unter den Tisch gefallen. Wir liefern seine Veröffentlichung nach.
.
(1) Karl Emmermann, Das Zuchthaus zu Celle, Inaugural-Dissertation, Jur. Fakultät der Universität Göttingen, Celle 1921:6
(2) Fritz Kleist, Jugend hinter Gitter, Jena 1931:10f.
(3) Gerd Hensel, Geschichte des Grauens. Deutscher Strafvollzug in sieben Jahrhunderten, Altendorf 1979.
(4) Fritz Kleist, Die Welt ohne Zuchthaus. In: Die Justiz. Monatsschrift für Erneuerung des deutschen Rechtswesens, zugleich Organ des Republikanischen Richerbundes, in Verbindung mit W. Mittermeier, G. Radbruch und H. Sinzheimer hrg. von W. Kroner, Bd. 6 (1930), Heft 1, S.49-56
(5) Kleist 1930:53.
(6) Theodor Lessing, Revolte im Zuchthaus. In: Prager Tagblatt v. 11.1.1931: 3f. Auch Kurt Tucholsky verteidigte den fortschrittlichen Ansatz und prangerte erzwungene Frömmigkeit gegenüber den Eingeschlossenen an. In: Die Weltbühne, 27. Jg., I. Halbj. (1931): 577-581
(7) Elisabeth und Heinrich Hannover, Politische Justiz 1918-1933,Frankfurt/M. 1966: 45-52.

aus: Prager Tagblatt vom 11.1.1931
Von Theodor Lessing (Hannover)

(...) Kleist ist Sozialist. Schon darum wird ihm in diesen verhetzten Tagen die Arbeit sauer gemacht. Er hat die Zwangsgottesdienste abgeschafft. Die Gefangenen können nach eigenem Belieben die Gottesdienste besuchen. Sie werden aber nicht mehr dazu gezwungen. Neben den kirchlichen Feiern gibt es im Zuchthause an Feiertagen weltliche Veranstaltungen, außerkonfessionell und allversöhnlich. Dazu werden Musiker, Sänger, Vortragskünstler, Lehrer, Gelehrte herangezogen, die ohne Entgelt den Büßenden gern aus ihrem Können schenken. Jede der kleinen Feiern wird mit rührendem Eifer von den Gefangenen schon lange vorher beredet und vorbereitet. Sie drucken in ihrer kleinen Druckerei selber das Programm, zeichnen und klischieren dazu Bilder und schmücken den bescheidenen Saal.
Weihnachten 1930 kam es in Celle zu einer Revolte. Der Hergang war dieser (Mir lagen die Protokolle vor, und ich kenne die Anstalt und beteiligte Personen.) Der oberste Leiter des Strafvollzugs, Dr. Muntau in Celle, ist ein streng evangelischer frommer Mann Keineswegs, wie die Linkspresse ihn hinstellt, ein inhumaner und mißwollender, wohl aber ein fanatischer Mann, der bei vielen Gelegenheiten sich getrieben fühlt, "ein Zeugnis abzulegen in Christo Jesu". Sein kirchlicher Eifer war gekränkt durch die Wahrnehmung, daß von den 401 Insassen nur ein Teil die vom 24. bis 28. Dezember täglich angesetzten Gottesdienste besuchte, daß dagegen alle in den Weihnachtsferientagen die weltlichen Vortragsveranstaltungen mitmachen So kam er zu der ersten dieser Veranstaltungen schon mit übler Laune und vorgefaßter Antipathie. Das Programm der Nachmittagsfeier am zweiten Weihnachtsfeiertage umfaßte elf Musiknummern und drei Rezitationen de s Schauspielers Dr. Tyndall aus Wien, der auf der Reise nach Bremen, von wo er sich zu einer Tournee mit Moissi nach Südamerika begab, in Celle Station machte und den Gefangenen einen Nachmittag schenkte. Tyndall rezitierte die Parabel von den drei Ringen aus Lessings "Nathan der Weise", und leitete sie mit einer Ansprache über Duldung und Humanität ein.
Er begann mit den Versen aus Mozarts Zauberflöte "In diesen heiligen Hallen kennt man die Hache nicht, und wenn ein Mensch gefallen, führt Liebe ihn zur Pflicht". Er sprach dann von Sühne und Strafe im humanen Sinn und nannte (was zweifellos nicht geschickt, weil einer agitatorischen Ausdeutung zugänglich war), Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg unter den "großen Befreiern des Menschengeschlechts". Die Ansprache wurde mit nicht endenwollendem Beifall aufgenommen. Aber bevor die nächste Programmnummer, ein Musikstück, beginnen konnte, erhob sich spontan der Präsident Dr. Muntau und schleuderte erregte Worte hinaus: "Ich glaubte zu einer christlichen Weihnachtsfeier zu kommen und muß mit Schmerz erfahren, daß hier das letzte Restchen religiösen Glaubens den Büßern aus der Seele .gerissen wird. Ich hebe hiermit die Feier auf."
Die überraschten Gefangenen gerieten in wilde Erregung und drangen gestikulierend und protestierend auf Dr. Muntau ein, der nur durch die Autorität des Direktors Kleist geschützt werden konnte. Plötzlich stimmte der zur Feier erschienene "Freie Volkschor Celle" ein Lied an, "Brüder zur Sonne, zur Freiheit", und die Gefangenen fielen in den Gesang mit ein. Der Direktor verbot den Gesang, und der Saal wurde geräumt. Der Präsident wandte sich erregt an den etwa fünfzigjährigen Dr. Tyndall mit den Worten: "Sie sind ein verlorener, unglücklicher junger Mensch, ich werde Sie in mein Gebet einschließen", und äußerte zum Direktor: "Sie werden sich vor Gottes Thron für Ihr Tun verantworten müssen." Aus diesem Vorkommnis entspann sich ein langer politischer Zeitungskrieg und eine Disziplinaruntersuchung, deren Verlauf noch unbekannt ist. Auch wenn wir reinsten Willen haben, dem frommen Bekehrungseifer des Strafvollzugspräsidenten gerecht zu sein und seine Gefühlsart zu verstehen, so kann doch die Ungeschicklichkeit seines Verhaltens nicht verkannt werden. Er hätte die Möglichkeit gehabt, den Schauspieler wie den Strafanstaltsdirektor dienstlich zu sich zu bitten und dann seinen Tadel auszusprechen. Statt dessen säte er Zwist und Unruhe in die ohnehin labilen Seelen der Gefangenen. Er verkannte dabei völlig die Kompetenz der Kirche. Er verkannte auch den Geist und Sinn der doch wohl nicht nur auf dem Papier stehenden Verfügungen zur Strafvollzugsreform. Man lese beliebige Bücher, die das Leben in den deutschen Strafanstalten schildern. Ganz gleich, ob von Max Hoel oder Ernst v. Salomon, von Hans Leuß oder Ernst Toller. Es ist herzzerreißend, welche Sinnlosigkeit der Mensch am Menschen verübt. Man könnte zahllose Unsinnigkeiten des Strafvollzuges rügen. (...)

An einer Stelle allerdings taucht Kleists Name auf: in dem Band "Celler Persönlichkeiten", verfasst von der Ehrenbürgerin dieser Stadt, Carla Meyer-Rasch, erschienen im Verlag der Celleschen Zeitung/Schweiger & Pick 1957. In ihrem Beitrag über den poetisch begabten Oberlandesgerichtsrat Dr. Franz du Bois schreibt sie, um dessen Schlagfertigkeit herauszustellen, dort auf Seite 51:
Das Oberlandesgericht brauchte neue Möbel, hatte sie im Zuchthaus bestellt; sie wurden aber nicht rechtzeitig geliefert, weil man dort erst die "Polstermöbel" für die Gefangenen "erster Klasse" machen mußte. Es ist während der Systemzeit. "Cafe Kleist" wurde die Strafanstalt nach dem damaligen Direktor genannt. Man findet dies Verhalten in der Spelunke ganz unerhört. "Was wollen Sie, meine Herren",sagt du Bois: "Dienst am Kunden."
Wer nicht weiß, wann die"Systemzeit" war: so nannten die Nazis die Weimarer Republik

Aus: Celler Zündel, 01.10.1982

Jahr
Personen
Schlagworte