Celle von 1869 bis 1918

Bekanntlich fielen die Nazis 1933 nicht vom Himmel, ebensowenig wie sie sich 1945 in Luft auflösten. Deshalb halten wir es für sinnvoll, uns mit der Zeit davor und danach zu beschäftigen: Wie gelangten die Nazis an die Macht, wie sahen die gesellschaftlichen Bedingungen aus, die dieses ermöglichten? Waren die Deutschen "Verführte" oder "Hitlers willige Vollstrecker"? Inwiefern "wiederholt" sich Geschichte (Stichworte: Neonazismus, Bundeswehr-Auslandseinsätze, brennende Flüchtlingsheime, ...)? Wurde aus Erfahrungen gelernt und wenn ja, mit welchen Konsequenzen? Wo sind ideologische, strukturelle oder gar personelle Kontinuitäten vor/nach 1918/1933/1945?
Überflüssig zu sagen, daß wir hiermit einem erstarkenden Geschichtsrevisionismus - aber auch einer bornierten Geschichtsvergessenheit - entgegentreten wollen. Die Verdrängung und Leugnung der Verbrechen des Faschismus kann keinen anderen Effekt haben, als diese, nunmehr befreit von schlechtem Gewissen oder gar "wissenschaftlich" verbrämt, zu wiederholen. Genauso ist klar: welche/r nicht aus Fehlern lernt, macht sie eben noch einmal.
Den Blick auf Celle halten wir aus mehreren Gründen für sinnvoll. Zunächst einmal wimmelt es gerade im Raum Celle von entsprechenden historischen und aktuellen Objekten für unsere Fragestellungen. Außerdem wird "Geschichte", also die zeitliche Entwicklung einer Gesellschaft, konkreter und somit verständlicher. Die "große Politik" hatte und hat eben auch ihre Bezüge zum "Alltag" eines jeden Menschen. Sie war/ist sowohl Folge als auch Ursache der Handlungen und Einstellungen der in ihrem Wirkungsbereich Lebenden. Diese sind also mitnichten nur Spielball der herrschenden Interessen, sondern vertreten durchaus auch ihre eigenen Ziele. Dieser zwar banale aber dennoch oft "vergessene" Zusammenhang (gerade wenn es um die Verantwortung für die Verbrechen zur Zeit des "Dritten Reiches" geht) läßt sich bei lokalgeschichtlicher Betrachtung - eben "näher dran" - besser sehen.
Dabei mußten wir sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch in der Ausführlichkeit der Darstellung Grenzen abstecken. Insofern können (und wollen) wir keine chronologisch vollständige Abhandlung über Celle 1869 ff. bieten, sondern müssen uns in dieser Serie auf einzelne, für unsere Fragestellung besonders zentral erscheinende Ereignisse und Prozesse beschränken. Und auch diese müssen wir in der gebotenen Kürze beschreiben; immerhin benennen wir so aber wichtige Ereignisse und hoffentlich auch einige Stichpunkte für eine genauere Auseinandersetzung mit dem Thema.

1869 wurde die Stadt Celle und ihre vier Vororte zu einem Gemeinwesen zusammengefaßt. Dadurch sollten die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Stadt verbessert werden. Mit der Annektion des Königreiches Hannover durch Preußen im Jahr 1866 hatte Celle nämlich seinen Status als "Zweite Residenz" und mit ihm zahlreiche öffentliche Einrichtungen, sprich Arbeitsplätze und KonsumentInnen, verloren. Diese Maßnahme führte jedoch nicht zum gewünschten Erfolg, zumal sich auch Celles verkehrstechnische Lage durch zahlreiche Eisenbahnlinien, die eben nicht durch, sondern an der Stadt vorbei führten, zusehends verschlechterte. Das bedeutete eine Schmälerung der Gewinne aus dem Durchgangshandel sowie eine Verkleinerung des Einzugsgebietes, dessen BewohnerInnen sich in Richtung günstiger gelegener Städte orientierten. An dem kurzen Wirtschaftsboom, der nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 und mit der Reichsgründung von 1871 einsetzte, hatte Celle ebenfalls keinen Anteil.
Ab ca. 1885 änderte sich die wirtschaftliche Situation Celles aufgrund der Entdeckung von Rohstoffen in der näheren Umgebung und der damit verbundenen Industrialisierung (wenngleich im Landkreis Celle ansonsten die Landwirtschaft die wirtschaftliche und soziale Situation bestimmte: noch 1925 waren 47,9% der Wohnbevölkerung hauptberuflich in diesem Bereich tätig, einschließlich der mithelfenden Familienangehörigen). Außerdem wurden wichtige Eisenbahnanschlüsse geschaffen und die Allerschiffahrt wiederaufgenommen. Zahlreiche Betriebe wurden gegründet, die Zahl der ArbeiterInnen, welche überwiegend in den Stadtteilen Blumlage und Neustadt wohnten, wuchs.

Antisemitismus

Zur selben Zeit erreichte die Deutsch-Soziale Partei bei den Reichstagswahlen von 1893 und 1898 mit antisemitischer Hetze in Celle einige Prozentpunkte. Auch die im Raum Celle überdurchschnittlich starke Deutsch-Hannoversche Partei (Welfen; bei den Reichstagswahlen von 1871 erreichten diese noch 55%, bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 waren es immerhin noch 10,4%. Nach zwischenzeitiger Auflösung in der NSDAP gingen nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihr zunächst die Niedersächsische Landespartei, dann die Deutsche Partei hervor) hatte bereits 1870 antisemitische Inhalte propagiert. Die Welfenpartei zählte sich selbst zu den ?wahren? Deutschen, während der ?deutsche Charakter? der Preußen durch ?slawische Elemente verwässert? worden sei. Dementsprechend verlor die DHP gegen Ende der Weimarer Republik stärker als alle anderen Parteien WählerInnenstimmen an die NSDAP.
Stellvertretend für einen zumindest latent vorhandenen Antisemitismus sei hier der ehemalige Bürgervorsteherworthalter, der Drogist Otto Jordan erwähnt. Dieser hohe Repräsentant des Celler Bürgertums äußerte 1912 in einer Versammlung des Bürgervereins, daß für den damals zu besetzenden Posten eines Bürgervorstehers in Celle ein Jude nicht geeignet wäre. Diese Äußerung mußte er nicht widerrufen - schließlich hatten ja auch "nur" Mitglieder der Israelitischen Gemeinde protestiert.
Zunächst aber verlor die DHP in Celle einen Großteil ihrer (Protest-) Wählerstimmen an die SPD, die in Celle seit den Reichstagswahlen von 1870 kontinuierlich Stimmengewinne verbuchen konnte und die DHP 1890 überflügelte, um bei den RTW von 1912 die absolute Mehrheit mit 49,3% nur knapp zu verfehlen.

Der Erste Weltkrieg und das Verhalten der Sozialdemokratie

In Celle war die Kriegsbegeisterung enorm. Selbst die überwiegend sozialdemokratisch gesonnene ArbeiterInnenschaft, von der wohl noch am ehesten Widerstand zu erwarten gewesen wäre, zog mit. Sie schien mit der Entscheidung ihrer revisionistischen (d.h., die führenden SPDler vertraten seit Ende des 19. Jhdts. eine von der marxistischen Analyse abweichende - revidierte - Auffassung vom Übergang zum Sozialismus; erklärbar ist dieses unter anderem mit der Verbürgerlichung der Facharbeiterschichten der reichen westlichen Industriestaaten, die inzwischen mehr Interesse an der Aufrechterhaltung ihrer materiellen Privilegien als an internationalem Klassenkampf hatten) Führung in Form der Reichstagsfraktion einverstanden zu sein: diese stimmte am 4. August 1914 für die Bewilligung der Kriegskredite. Auf einer Kundgebung am 31. Juli 1914, die sich gegen den drohenden Krieg richtete, fanden sich nur 10 Personen ein. Und die Zahlstelle Celle des Zentralverbandes deutscher Zimmerer erklärte am 2.August "im Betreffe der nationalen Sache" den nunmehr fast zwei Monate andauernden Streik im Baugewerbe für beendet - womit sie sogar einem gleichartigen Beschluß des zentralen Bauarbeiterverbandes zuvorkam, der am 3. August 1914 den Verzicht auf Streiks für die Dauer des Krieges anordnete.
Nachdem am Abend des 1. August 1914 die Mobilmachung des Deutschen Heeres bekanntgegeben wurde, konnte Oberbürgermeister Denicke eine bis dahin nie dagewesene Kriegsbegeisterung feststellen. Die den Celler Hauptbahnhof durchfahrenden Militärzüge wurden von zahlreichen Schaulustigen umjubelt, an Realschule und Gymnasium fanden Notprüfungen statt, um den kriegslüsternen jungen Männern die schnellstmögliche Teilnahme am großen Morden zu ermöglichen. Ganze vier (!) Oberprimaner blieben dem Celler Gymnasium - und auch diese, der Ehrenrettung halber sei's erwähnt - nur wegen "Untauglichkeit". Diejenigen, die noch zu jung waren, durften sich unter Anleitung von beurlaubten Unter-/Offizieren in der Celler "Jugendwehr" auf die Teilnahme am Krieg vorbereiten.
Nachdem die Truppen der Celler Garnison, das Infanterie-Regiment Nr. 77 und die II. Abteilung des Niedersächsischen Feldartillerieregiments Nr.46 unter großem Hurra ab dem 7. August die Stadt verlassen hatten, wurde auch in Celle gemäß einer Anordnung des preußischen Innenministers aus "zuverlässigen" Einwohnern (als solche wurden insbesondere Mitglieder der Schützengilden und der Kriegervereine betrachtet) eine Bürgerwehr zwecks "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung" gebildet. Der Justizrat Karl Böning war Kommandeur dieser Truppe, die rasch auf eine Größe von 350 Mann anwuchs, 1915 aber wieder aufgelöst wurde.
Schnell bekamen die CellerInnen jedoch die Grausamkeit des Krieges vor Augen geführt: die ersten Verwundeten trafen in Celle ein und ab dem 20. August veröffentlichte die Cellesche Zeitung neben Kriegspropaganda auch die Namen der gefallenen "Söhne der Stadt". So sahen sich die Herrschenden veranlaßt, das "Volk" noch einmal (und nicht das letzte Mal) für die nationale Sache zu begeistern. Auf einer entsprechenden "Kriegsversammlung" am 6. September 1914 in der "Union" wurde kräftig gehetzt: Neben dem Präsidenten des Oberlandesgerichtes, Wolff und dem Vorsitzenden des Bezirksvorstandes des preußischen Landes-Kriegerverbandes und Ersten Diakonus der Stadtkirchengemeinde, Pastor Wittrock, tat sich vor allem der Realschuldirektor Rößler hervor. Dieser sah keinerlei Schuld auf deutscher Seite und sprach von den militärischen Gegnern des Deutschen Kaiserreiches als einem "Bunde von Nationen, die ihr Werk mit Fürstenmord, mit den entsetzlichsten Grausamkeiten, mit dem Bruche des Völkerrechts begonnen, die sich hinter gelbe und schwarze Bestien versteckten." Nunmehr bekämen jene die Quittung, überreicht durch "unsere Söhne, Brüder, Volksgenossen draußen auf dem Felde der Ehre." Wieder ging die Menge mit großem Hurra auseinander.
Ab dem November füllte sich dann das Kriegsgefangenenlager in Scheuen, das sog. "Cellelager". Bis zum Sommer 1915 war die Zahl der dort Internierten auf 9.500 angewachsen - somit war es das drittgrößte der Provinz Hannover. Die Gefangenen wurden zu Zwangsarbeiten in Landwirtschaft und Betrieben zur Verfügung gestellt.
Darüberhinaus war das Lager beliebtes Ausflugsziel, konnten dort doch die "Feinde Deutschlands" aus nächster Nähe begutachtet werden. In einem Bericht heißt es: "Wer diese militärischen Vertreter der verschiedenartigen deutschfeindlichen Völkerschaften mit forschendem Blick mustert, wozu ja den Bewohnern von Scheuen und Umgebung reichlich Gelegenheit gegeben wird, der findet bald, daß er große Ursache hat, Gott dafür zu danken, daß wir Deutsche sind, und er wird auch als deutscher Christ sich von dem Wunsche Geibels beseelt fühlen, daß die Welt und damit auch diese Völker, denen solche Gefangene gehören, noch einmal am deutschen Wesen ihre Genesung erlangen mögen" (abgedruckt u.a. im Gemeindeblatt für das Kirchspiel Groß Hehlen gegen Ende des Jahres 1916 abdruckte).
Glücklicherweise war das Deutsche Reich zwar militärisch, nicht aber wirtschaftlich auf den Krieg vorbereitet und die Not der ärmeren Bevölkerungsschichten nahm zusehends größere Ausmaße an. Beachtenswert auch hier wieder das Engagement der Celler Sozialdemokratie, die anläßlich einer relativ erfolgreichen Spendensammlung zur ersten Kriegsweihnacht feststellte, "daß durch gemeinsame Arbeit und Mithilfe aller Volksgenossen (!) wirklich etwas großes geschaffen werden kann". Das Ergebnis sei "ein Stück Sozialismus" ...
Weder diese "volksgemeinschaftlichen" Bestrebungen - "Demonstrationen des Gemeinsinns" heißt es beim Direktor des Bomann-Museums M. Bertram - seitens Stadtverwaltung, Geistlichkeit, Lehrerschaft, Arbeiter- und Frauenorganisationen noch die Mobilisierung aller Kräfte ab Ende August 1916 konnten die militärische Niederlage abwenden. Die Kriegsmüdigkeit machte sich breit. Vor allem in der ArbeiterInnenklasse, insbesondere unter den Frauen, die mehr noch als in "Friedenszeiten" für das Durchbringen ihrer Familien zu sorgen hatten, wuchs der Unmut angesichts Lebensmittelknappheit einerseits und vollen Bäuchen der reicheren "Volksgenossen" andererseits.
Zu dieser Zeit hatte sich - am 2.9.1917 - die rechtsextreme deutsche Vaterlandspartei gegründet, die einen Frieden ohne deutsche Gebietsgewinne - die reale militärische Situation ignorierend - ablehnte. Auch in Celle sollte eine Ortsgruppe gegründet werden, wobei es Unterstützung von höchster Stelle gab. In einem Aufruf vom 15.9. forderte Oberbürgermeister Denicke zum Beitritt zu dieser Organisation auf. Die Versammlung fand am 17.9. mit knapp 200 Personen in der "Union" statt, unter Leitung des bereits erwähnten Pastors Wittrock. Allerdings hatten die Organisatoren nicht mit dem "Volksgenossen" und Mehrheitssozialdemokraten (die linke Opposition innerhalb der SPD hatte sich 1917 in der U[nabhängigen]SPD organisiert) Schädlich gerechnet: Dieser warf den Veranstaltern vor, den "Burgfrieden" zwischen Herrschenden und "Volk" bzw. Arbeit und Kapital zu gefährden. Und so fanden sich nur knapp 20 Leute, die eine Ortsgruppe gründeten, während Honoratioren wie Denicke es in-zwischen für weniger opportun hielten, der neuen rechten Sammlungsbewegung beizutreten. Selbige existierte denn auch nicht lange.

...Fortsetzung folgt...

AG 8.April 1945

[Exkurs, war nicht Teil des Artikels]
Ursachen des Aufkommens der völkischen Bewegung

An dieser Stelle wird versucht, die Entstehung der völkischen Ideologie/Bewegung unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit für imperialistische Interessen, also "von oben" zu beschreiben. Eine anderer Aspekt, den wir nur kurz noch nennen wollen, wäre das Verhalten von Bauern und Bürgern angesichts drohender wirtschaftlicher Deklassierung und aus Enttäuschung über die mit der Nationengründung versprochenen aber ausgebliebene Versprechung der nationalen Einheit. So begaben sich diese Kreise mit aufkommender Industrialisierung auf die Flucht in die Romantik bzw. aufs Land und suchten die Einheit in der Natur, was sich prima vertrug mit "wissenschaftlichem" Rassismus, Germanentümelei und mittelalterlich-ständischen, "natürlichen" Gesellschaftsentwürfen.
Aber nun zum Problem der notwendigen ideologischen Erneuerung: Der Übergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium gegen Ende des 19. Jahrhunderts erforderte eine entsprechende Wandlung, um das gesamte "Volk" bei der innenpolitischen Durchsetzung der neuen Interessen des Großkapitals (und das war letztlich Krieg zwecks Neuverteilung der Erde, d.h. Märkte; gerade Deutschland war ja wegen der späten Nationalstaatsbildung erst recht spät, 1884, zu aktiver Kolonialpolitik übergegangen und hatte wenig vom Kuchen abbekommen, der mittlerweile vollständig verteilt war) einzubinden.
Simpler Nationalismus (auch als Form ideologischer Gleichheit, wenn es schon nicht - wie in der bürgerlichen Revolution versprochen - materielle Gleichheit gab) genügte da nicht mehr. Aus dem Naturrecht auf einen eigenen Staat mußte ein Nationalgedanke werden, der das "Recht" hervorbrachte, die Eigenstaatlichkeit anderer Nationen zu beseitigen und diese zu beherrschen. Innenpolitisch durfte der neue Nationalismus nicht mehr erweiterte Freiheitsrechte fordern, sondern mußte einen ?nationalen Willen? herstellen, hatte also eine denunziatorisch-antidemokratische Stoßrichtung und Argumentation.
Auch der Sozialdarwinismus, - die vordergründige Anwendung der Darwinschen Erkenntnisse auf die Gesellschaft - hatte als politische Herrschaftsrechfertigungsideologie einen Mangel. Er war moralfrei und bot somit keine Möglichkeit für die Identifikation mit den Herrschenden: wenn das Leben der Kampf aller gegen alle ist, kann sich schwerlich die erforderliche klassenübergreifende "nationale Schicksalsgemeinschaft" herausbilden, ja es wäre sogar denkbar, daß sich die Schwachen gegen "die da oben" zusammenschließen.
Und so kam (ab Mitte des 19.Jhdts.) der "moderne", d.h. "wissenschaftliche" Rassismus hinzu, welcher sich des Sozialdarwinismus als philosophischer Grundlage bediente. Die Proklamation der "Rasse" als Lebenskampfsubjekt und ihre Definition als "Blutsgemeinschaft" unterband die Möglichkeit der sozial Beherrschten, sich ihrerseits auf das sozialdarwinistische "Lebenskampfgesetz" zu berufen. Umgekehrt erlangte der Rassismus dadurch, daß "Rassenkämpfe" zum "Lebensgesetz" wurden, zusätzliche Aggressivität, die zur Rechtfertigung imperialistischer Politik vonnutzen war.
Nun gab es aber immer noch - aus Sicht der Herrschenden - das Problem einer erstarkenden Anhängerschaft der SPD. Ein Drittel der Bevölkerung stand potentiell den Kriegsplänen ablehnend gegenüber. Es mußte also versucht werden, und zwar im Namen des Sozialismus, die ArbeiterInnen für imperialistische Pläne zu gewinnen.
Dieses geschah durch die Verknüpfung der neuartigen Elemente imperialistischer Ideologie (Nationalismus, Sozialdarwinismus, Rassismus), mit dem "modernen", d.h. rassistisch (also auch "wissenschaftlich") begründeten Antisemitismus, welcher ebenfalls ab Mitte des 19. Jhdts. entstand. "Der Jude" wurde - ohne eigene Nation, eben international - "zersetzender" Feind der Nation bzw. der "germanischen Rasse" (der "Volksgemeinschaft", in der es angeblich keinen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital gibt bzw. dieser naturgegeben und nicht zu hinterfragen ist).
Damit wurde gegen zwei Hauptideen des Sozialismus argumentiert, nämlich Internationalismus und Klassenkampf. Dementsprechend war der Marxismus "jüdisch verfälschter" Sozialismus, die sozialistischen FührerInnen "Agenten der Judenrasse": Der moderne Antisemitismus übernahm innenpolitisch zusätzlich die Funktion der Sozialismusbekämpfung.
Da der Arbeiterschaft der Sozialismus aber nicht gänzlich genommen werden sollte, entstand die Theorie vom "völkischen Sozialismus", auf theoretischer Grundlage des "Lebensgesetzes vom Rassenkampf um Raum" und somit imperialistische Außenpolitik legitimierend. Die in der Tat bestehenden Ungerechtigkeiten im kapitalistischen System hätte das deutsche "Volk" ebenfalls dem Judentum zu verdanken. Dieses sei in das deutsche Kapital eingedrungen. In Gestalt des "raffenden Kapitals" bringe es mit seinem Materialismus und Zinswucher auch das "schaffende arische Kapital" in Verruf und "infiziere" es mit seiner Unmoral.
(vgl. R. Opitz: Faschismus und Neofaschismus, S. 5-29 sowie Kühnl: Formen bürgerlicher Herrschaft)

Aus: Publiz. Politik und Kultur aus Celle, Nr. 20, Okt./Nov., 1996, S. 6-8