Amtshilfe - Bis Celle ohne Juden war

Anfang 1933 lebten in Celle etwa 80 jüdische Bürger. Keiner von ihnen ist zurückgekehrt. Die Überlebenden sind im Ausland geblieben, in den USA, in Israel, Argentinien; sie kamen nur kurz, um ihren Kindern die Stadt zu zeigen, aus der sie fliehen mußten. Ihre Wohnungen, Geschäftsräume und Plätze sind noch erhalten, nur bewohnt von anderen, die dort ihrem Alltag nachgehen, ohne Erinnerung an sie, die sich hier doch auf immer eingerichtet hatten. Was werden sie empfunden haben, alles so unverändert vorzufinden?

Die versteckt in einem Hinterhaus gelegene Synagoge wurde 1974 restauriert. Leben kann nicht restauriert werden. Der Friedhof liegt still und vergessen. Als im Sommer 1970 dort Jugendliche wie ihre Väter randalierten, interessierte das in Celle niemanden; es war gerade Schützenfest.
Was ist geblieben? Es gibt einige wenige Akten, unvollständig und einander widersprechend; und es gibt die Berichte der »Celleschen Zeitung«, die die Vertreibung zuerst mit erschreckender Norrnalität begleiteten und mit der Zeit immer entschiedener unterstützten. Man erfährt Daten, Fakten und die irrationale Propaganda, aber nichts von dem Leid, der Furcht und der Trauer der Menschen, gegen die sie 8erichtet war. Dabei geschah fast alles vor den Augen der Freunde, Nachbarn, Klassenkameraden und Kunden und hatte nicht erst 1933 begonnen.
»Geschehnis gliedert sich an Geschehnis,« schrieb Kurt Tucholsky im Februar 1920 in der »Weltbühne«, »und keiner will sehen, wie wir offenen Auges ins Verderben laufen. Weit, weit hinter das Jahr 1914 zurück.« Und er zitierte den Brief eines Ofluziers aus der Provinz Hannover: »Wohin soll das führen? Hier sammelt sich im stillen ein Haß an, der, zum Brand entfacht, fürchterlich in Erscheinung treten muß. (...) Es wird gar nicht mehr diskutiert, daß die Juden umgebracht werden sollen, sondern nur, wie man sie umbringen will.« [97]
Immer wieder tauchten in Celle Flugblätter auf, die offen zu Gewalttätigkeiten gegen Juden aufforderten. Sie wurden an Hauswände und Schaufenster geklebt, selbst während einer Theatervorstellung im Saalvorraum der städtischen »Union«. Am 6. Januar 1920 bat die jüdische Gemeinde den Magistrat, »Stellung gegen dieses Treiben zu nehmen und die Polizeiorgane anweisen zu lassen, gegen die Verbreiter der Handzettel einzuschreiten.« Zwei Tage danach sprach der Rat gegen sieben Stimmen der bürgerlichen Fraktion seine »schärfste Mißbilligung gegen diese hinterhältige und schmutzige Hetze« aus und bat die Polizeidirektion »energisch gegen die anonymen Hetzer« einzuschreiten. Wenig später stellte die Polizei ihre Ermittlungen ein. Ohne Ergebnis.
Eva van der Wall ging auf die Oberrealschule am Nordwall, dem späteren Hermann-Billung-Gymnasium. Ihr Vater, der Rechtsanwalt Dr. Julius v. d. Wall, war Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Celle. Ob Eva dadurch Nachteile hatte, daran können sich ihre ehemaligen Klassenkameradinnen heute, nach über fünfzig Jahren, nicht mehr erinnern. Nach dem Abitur 1928 trennten sich die Wege, man hatte nur noch selten Kontakt miteinander Auch waren nur wenige richtig mit ihr befreundet, Eva war immer recht still und zurückhaltend - vielleicht war das der Grund.
Eine Mitschülerin erinnert sich, daß Eva mit jüdischen Jungen Tanzstunde hatte und später zu Tanzfesten nach Hannover fuhr, aber nie mit anderen Juristentöchtern zusammen auf Juristenfeste ging. Margarete Freese, die eng mit Eva befreundet war, weiß, warum sie dort nicht so gern hinging. »Im Jahre 1924 hatten die antisemitischen Parolen dazu geführt, daß die jüdischen Schülerinnen gemieden wurden. Man forderte sie nicht zur Tanzstunde auf und tuschelte.« Als Margarete Freese sich zu einer tuschelnden Gruppe gesellte, wurde Eva sehr ärgerlich; sie nahm die Sache sehr ernst.
Beide waren noch oft zusammen, Margarete besuchte Eva auch längere Zeit in Paris, wo sie an der Sorbonne studierte. Sie lebte dort wie i n einer anderen Welt.
In Deutschland spitzte sich die Lage langsam zu. Die NSDAP, die schon seit 1927 immer wieder versucht hatte, jüdische Geschäfte zu boykottieren, war in Celle 1932 zur stärksten Partei geworden. Am 30. Januar 1933 eroberte sie im Reich den staatlichen Machtapparat. Eva van der Wall hatte kurz vorher einen alten Jugendfreund, Walter [98] / Kauffmann, geheiratet. Er war ebenfalls Jurist und trat in die Kanzlei ihres Vaters ein. Margarete Freese kann sich noch an einen Brief erinnern, den sie 1933 von Eva zum Geburtstag erhielt. »Aus ihm sprach Trauer und Hoffnungslosigkeit.«
Im April 1933 hatte die NSDAP ihre Macht in Celle weitgehend etabliert. Die KPD war zerschlagen und verboten. Die SPD schwieg, wartete ab und ließ sich nicht »provozieren«. Die »Bürgerlichen« schwebten über den Dingen. Noch im Februar hatte der für die »Bürgerliste« kandidierende Rechtsanwalt August Sagebiel betont, daß es immer noch Bürger gäbe, die »jenseits des Marxismus und des Nationalsozialismus« stünden und »einer 'unwiderstehlichen und großen Bewegung' auch weiterhin widerstehen« könnten. Im Rathaus jedenfalls sollten keine »'gigantischen Kämpfe um die Erlösung unseres Vaterlandes' ausgefochten« werden. Leere Worte. Am 6. April stimmten sie im Magistrat einem Antrag der NSDAP, jüdische Geschäfte und Unternehmen von städtischen Aufträgen auszuschließen, zu.
Eine Woche vorher, am 1. April, war es zu einer ersten propagandistischen Aktion gegen jüdische Läden gekommen. Die »Cellesche Zeitung« berichtete wie von einem Fest: »Die Stadt war natürlich heute morgen auf den Beinen, um die Abwicklung der angekündigten Maßregeln zu erleben. Die typischen Zentren waren von dichten Menschenmengen besetzt. Kurz vor 10 Uhr marschierte die SS singend zur Polizei. Dort wurden einige Hilfspolizeibeamte verpflichtet, die nachher den städtischen Beamten halfen, die Straßen für den Verkehr freizuhalten. Auf der Kanzleistraße hatten sich SA-Leute versammelt; sie trugen schon die Schilder, mit denen sie sich kurz nach 10 Uhr vor die Läden der jüdischen Geschäfte oder die Türen der jüdischen Rechtsanwälte stellten. Die Aktion verlief ohne jede Unruhe.«
Doch noch ließen sich viele davon nicht beeindrucken, schoben die SA-Posten einfach zur Seite. Der Schuhhändler Oskar Salomon heftete sich sein im ersten Weltkrieg erworbenes Eisernes Kreuz und das Verwundetenabzeichen ans Jackett und stellte sich zwischen die beiden Posten vor seinem Geschäft. Der ältere der beiden SA-Männer nahm beschämt sein Plakat und verschwand.
Julius van der Wall war inzwischen verboten worden, vor dem Oberlandesgericht aufzutreten. Eva und Walter Kauffmann emigrierten nach Amsterdam, sie wurden in Celle zuletzt 1937 gesehen. Als sie fortgingen, war Evas Mutter dem Wahnsinn nahe. Margarete Freese und [99] / Eva schrieben sich noch öfter, obwohl ihr Vater abriet, die Verbindung aufrecht zu erhalten, damit sie nicht in Schwierigkeiten käme. Bald hörten sie nichts mehr voneinander. Evas Eltern blieben in Celle. Julius van der Wall fühlte sich »ganz als Deutscher«.
1938 hatten eine Reihe jüdischer Familien Celle bereits verlassen. Die Atmosphäre in der Stadt war immer gefährlicher geworden, die antisemitische Propaganda - vor allem auch in der »Celleschen Zeitung« - hatte in ihrer Schärfe immer mehr zugenommen. Die jüdischen Geschäfte hatten nur noch wenige Kunden. Manche kauften auf Kredit, ohne je zu bezahlen, in der Gewißheit, die Juden bekämen ja doch kein Recht.
Als in der Nacht vom neunten auf den zehnten November auch in Celle die Läden und Kirchen verwüstet wurden, hielt die »Cellesche Zeitung« das für den Ausdruck »spontanen Abscheus gegen die jüdischen Mordbuben« in der Bevölkerung.
Am Morgen des 10. November ging der Celler Karl Dürkefelden auf dem Weg zur Arbeit durch die Altstadt: »Es war viertel vor acht Uhr. Ich kam hinter der Stadtkirche vorbei und sah in der Zöllnerstraße, Ecke Poststraße, einen Menschenauflauf und fragte ein Mädchen, was da los sei. 'Bei Wolff' liegen die ganzen Sachen draußen.' Ich wollte zurückgehen, tat es aber der knappen Zeit wegen nicht. Ich sah noch ein schadenfrohes Gesicht, hörte Worte: 'An der Ecke liegt auch alles auf der Straße, haben ganze Arbeit gemacht.'«
Am Judenfriedhof in der Straße »Am Berge« waren morgens um halb fünfzwei Kraftwagen und einige Motorräder vorgefahren. Etwa 15 Mann in Zivil zerschlugen innerhalb einer halben Stunde die Einrichtung der Friedhofskapelle. Auch in der Synagoge hatte man die Fenster zertrümmert und hinausgeworfen. Sie wurde nur deshalb davor bewahrt, angezündet zu werden, weil sie unmittelbar an eine Häuserreihe und eine Lederfabrik grenzte.
Im Laufe des Tages nagelten Stadtbedienstete die Schaufenster mit Brettern zu. Straßenfeger warfen mit der Schaufel Scherben, Dekorationspuppen, Schuhe und Kleider in die Geschäfte zurück. Wieder stand Oskar Salomon mit seinen Auszeichnungen aus dem ersten Weltkrieg daneben. Fast alle jüdischen Bürger wurden im Gemeindehaus der Synagoge »Im Kreise« in Verwahrung genommen und von der zuständigen Geheimen Staatspolizei Harburg nach Hamburg transportiert. Die [100] / Möbel sowie den gesamten Hausrat übernahm die Verwaltungspolizei, den Wohnungsschlüssel das Finanzamt, das die Sachen zu verwerten hatte. In die Geschäfte zogen neue Besitzer ein, darunter die ehemalige Konkurrenz. Noch Tage nach der »Kristallnacht« liefen durch die Stadt Männer mit verbundenen Händen - auch angesehene Geschäftsleute.
Das Ausmaß der Zerstörung hatte jedoch einige Bürger erschreckt. Diejenigen, die Mitgefühl mit den Juden äußerten, mußten sich vor auf der Polizei rechtfertigen. Die Rechtsanwälte Frisius und Dr. Klapproth, obwohl selbst in SA-Positionen, distanzierten sich offen, kamen vor ein Parteigericht und wurden freigesprochen, weil die Aktion selbst innerhalb der NSDAP auf Kritik gestoßen war. Doch am 9. Dezember 1938 schloß eine Großkundgebung in der städtischen »Union« mit den Worten: »Die Judenfrage ist jetzt endgültig gelöst. Was wir einmal wollten, daß es nämlich in ganz Deutschland keine Juden mehr gibt, wird in Erfüllung gehen.«
Julius van der Wall und seine Frau Else folgten ihrer Tochter am 10. November nach Amsterdam. Die Möbel und die Bibliothek sollten nachkommen, wurden jedoch noch am gleichen Tag zerstört. Amsterdam war nicht weit genug. Die Deutschen besetzten Holland und ermordeten auch Julius und Else van der Wall. Eva und Walter Kauffmann wurden nach Auschwitz gebracht. Ihr Kind konnten sie noch rechtzeitig zu Freunden bringen und dadurch retten. Eva starb in Auschwitz. Ihr Mann kam vielleicht noch einmal durch Celle - er starb in Bergen-Belsen.
Die Geschichte der Vertreibung der Juden aus Celle war damit nicht zu Ende. Nach der Befreiung gab es eine größere jüdische Gemeinde und die Einrichtung in Celle als zuvor: Menschen, die Bergen-Belsen überlebt hatten, ausgehungert, krank, seelisch gebrochen und weit von ihrer Heimat entfernt. Die Briten brachten sie in die Celler Heidekaserne in der 77er Straße. Einigen gelang es, Wohnungen zu bekommen. Die Synagoge wurde wiederhergestellt und erwachte zu neuem Leben. Täglich gab es Gottesdienste und Bibelstunden, im Gemeindehaus wurden Mittagessen verteilt.
Doch die Celler Bevölkerung, erinnert sich der Rabbiner Zvi Asaria, war der neugegründeten Gemeinde »nicht wohlgesinnt«. Sie machte ihr Schwierigkeiten »sowohl bei der Vermietung von Wohnungen, als auch bei der Ausgabe von Lebensmittelkarten. Sie versuchte öfter, [101] / diese Karten zu verweigern mit der Ausrede - und dieses teilten sie den englischen Behörden mit - daß die Juden keine konstruktive Arbeit leisten wollten.«
Mit der Zeit konnten alle ausreisen, kehrten in ihre Heimatländer zurück oder gingen nach Israel. Bis Celle ohne Juden war.
Als im Oktober 1951 die Landeshauptstadt Hannover wissen wollte, wer »nach außen die Verantwortung für die Evakuierung getragen hat, Stadtverwaltung, Polizei oder eine Parteidienststelle?«, da schrieb der Celler »Stadtbürodirektor« in seiner Antwort am 16.10.1951: »Die Abschiebung geschah auf Weisung der Gestapo ... Wenn tatsächlich die Stadt als Verwaltungspolizei tätig geworden ist, so geschah dieses immer nur auf Weisung der Gestapo. Aus eigener Initiative hat die Stadt, bzw. die Verwaltungspolizei, nichts unternommen und sie war hierzu auch nicht befugt. Wir haben lediglich Amtshilfe zu leisten gehabt.«

Aus: Werner Holtfort, Norbert Kandel, Wilfried Köppen, Ulrich Vultejus, Hinter den Fassaden. Geschichten aus einer Deutschen Stadt. Göttingen, S. 97-102